Beim Pacing kommt es darauf an, sich innerhalb der engen Grenzen zu bewegen, die von der Erkrankung gesetzt wurden. Dank der bereits aufgeführten Unterstützungsmaßnahmen ist dies möglich. Betroffene brauchen jedoch sehr viel Disziplin, die sie im Alltag stark strapazieren müssen. Denn es gibt einen mächtigen Gegenspieler, der uns manchmal verleitet, doch über unsere Grenzen zu gehen: Das Adrenalin gilt als ein großer Risikofaktor bei ME/CFS und auch bei MCAS.
Das Kampf- bzw. Fluchthormon wird bei gesunden Menschen normalerweise nur in akuten Gefahrensituationen sowie beim Sport oder freudigen Ereignissen freigesetzt. Aber bei ME/CFS-Betroffenen können bereits ganz normale Belastungssituationen einen Adrenalinschub auslösen, der dann für einige Zeit (Stunden, Tage, Wochen und sogar Monate) dafür sorgt, dass sie „funktionieren“. Die meisten dürften dies schon einmal bei Arztbesuchen, Umzügen etc. erlebt haben. Aber nicht nur Belastungssituationen, sondern auch Freude oder Begeisterung können dafür verantwortlich sein, dass man mehr macht als man sollte, was sich z.B. in Urlauben oder bei Besuchen bemerkbar macht. Das Adrenalin gaukelt den Betroffenen dann vor, dass es ihnen besser geht. Dadurch machen sie mehr und wirken in diesen Zeiten auch viel gesünder als sie eigentlich sind. Aber es ist „geborgte Energie“, die eigentlich nicht da ist. Nach dem Adrenalinschub kommt der Absturz – ein Crash, der im Zweifelsfall dafür sorgt, dass der Energiehaushalt noch geringer ist als vor dem Adrenalinstoß. Daher sorgen Adrenalinschübe in der Regel für eine Verschlechterung der Erkrankung.
Besonders gefährdet sind
Menschen, deren Toleranz für Schmerzen und Unbehagen sehr hoch ist. Egal, ob
dies von außen aufgezwungen wurde durch Aktivierung von Seiten der
medizinischen Behandler oder ob es aus dem eigenen Antrieb aufgrund einer
starken Arbeitsmoral: Es ist hochriskant, sich mit Hilfe der Adrenalinschübe
immer wieder zu überfordern. Der Crash kommt bestimmt.[i]
Auf längere Sicht kann sich die Erkrankung durch dieses Verhalten stark
verschlechtern.
Folgende Anzeichen sprechen für einen Adrenalinschub:[ii]
1. Sehr schnelles, lautes und kontinuierliches Sprechen.
2. Schnelle und unruhige Bewegungen.
3. Gefühle der Euphorie, der Übererregbarkeit oder des wilden Optimismus.
4. Der Betroffene kann länger als gewöhnlich sitzen oder stehen oder sich zu Aufgaben aufraffen, für die er normalerweise zu krank wäre.
5. Schlafen und Ausruhen sind sehr schwierig, da man sich zu "aufgedreht" und sehr "unausgeschlafen" fühlt.
Als Anzeichen für einen darauffolgenden Crash sollten folgende Symptome ernst genommen werden:
6. Zu Beginn der Erkrankung kommt es häufig vor, dass Betroffene nach einer Überanstrengung viel länger als üblich schlafen oder bewusstlos sind.
7. Bei einem schweren neurologischen Anfall können M.E.-Patienten fälschlicherweise für betrunken oder drogenabhängig gehalten werden.
8. "Schlaffe" Gesichtsmuskeln haben und/oder extreme Gesichtsblässe.
9. Augenbrennen und Unfähigkeit, visuelle Reize zu tolerieren.
10. Übermäßiges Trinken von Wasser sowie übermäßiger Hunger und Verlangen nach zucker- oder kohlenhydratreichen Nahrungsmitteln.
11. Schwitzen oder Kurzatmigkeit nach leichter Anstrengung.
12. Sichtbares Zittern der Arme oder Beine oder Zuckungen der Gesichtsmuskeln.
13. Lähmungen und Schwäche in den Muskeln oder Unfähigkeit, sich zu bewegen, zu sprechen oder Sprache zu verstehen.
14. Plötzlicher Verlust der Fähigkeit zu gehen.
15. Starke Reizbarkeit.
16. Starke Halsschmerzen und/oder schmerzhafte und empfindliche Drüsen im Hals (und möglicherweise andere grippeähnliche Symptome).
17. Sehr deutlich rosafarbene, violette oder blaue Füße oder Beine, mit weißen Flecken, nach zu langem Stehen oder Sitzen.
18. Starke Kopfschmerzen oder ein Schmerz- oder Druckgefühl an der Schädelbasis.
19. Tinnitus oder Verlust des Hörvermögens.
20. Während und nach einer Überanstrengung wird der Puls des Patienten sehr oft viel schneller (150 Schläge pro Minute oder mehr), der Blutdruck sinkt und die Temperatur kann ansteigen.
21. Der Patient fühlt sich sehr heiß (oder abwechselnd sehr heiß und sehr kalt) an.
Adrenalinschübe sollten auch bei
MCAS gemieden werden, da Adrenalin die Mastzellen triggert. Daher gilt es, Aufregung
jeglicher Art zu vermeiden und das Leben eher „wie einen ruhigen, langsam
fließenden Fluss“ zu gestalten.
Aus demselben Grund muss – wenn möglich – bei lokalen Eingriffen und Operationen auf Betäubungsmittel mit Adrenalin verzichtet werden. Notfallausweise garantieren dies für den Ernstfall.
Bleiben Sie daher vorsichtig und achten Sie auf Ihre Grenzen. Auch wenn Sie zeitweise das Gefühl haben, viel mehr machen zu können, lassen Sie sich davon bitte nicht leiten und denken Sie an Ihre Pacing-Regeln. Lassen Sie sich von Ihrem Umfeld unterstützen. Bitten Sie Ihre Nächsten, mit Ihnen darauf zu achten, dass die Grenzen eingehalten werden. Vor allen Dingen sollten Sie sich von keinem Behandler und auch nicht von Ihrem Umfeld dazu überreden lassen, mehr zu machen. Dies gilt v.a. für die GET-Therapie (Graded Exercise Therapy), die nach wie vor bei ME/CFS und Long Covid von unkundigen Physiotherapeuten und in Reha-Einrichtungen angeboten wird. Diese Therapie hat vielen ME/CFSlern und Long Covid-Patienten nachhaltig geschadet.
Details zu der Wirkung von
Adrenalin bei ME/CFS finden Sie in dem Buch „Das Monster danach“ von Nils
Winkler und Gitta Meier sowie unter dem link
https://www.me-cfs.net/images/aktuelles/aktuelles_2021/Adrenalin-und-M.E.pdf.
Eine sehr gute Anleitung zum Pacen ist wiederum unter dem link https://www.omf.ngo/wp-content/uploads/2019/09/PEM-Avoidance-Toolkit-Deutsch.pdf
erhältlich. Sie enthält grundlegende Informationen sowie Arbeitsblätter zum
Ausfüllen und ermöglicht so Betroffenen, den Krankheitsverlauf über einige
Wochen zu dokumentieren.
Ich selbst habe mit Adrenalinschüben
und darauffolgenden Crashs leider sehr viele Erfahrungen gemacht, da meine
ME/CFS-Erkrankung 18 Jahre lang fehldiagnostiziert wurde. In den
psychosomatischen Reha-Maßnahmen wurden meine körperlichen Erschöpfungssymptome
nicht ernst genommen. Daher wurde ich immer wieder dazu angetrieben, das Pensum
zu erfüllen, Sport zu machen und keine Therapien ausfallen zu lassen. Da ich
grundsätzlich über ein sehr großes Pflichtgefühl und einen sehr starken
Eigenantrieb verfüge, dauerte es sehr lange, bis ich darum bat, Termine
ausfallen zu lassen. Aber keine Chance. Ich erinnere mich noch gut an einen
Tag, an dem ich zum Schwesternzimmer kam, um zu sagen, dass ich einfach keine
Kraft mehr habe. Die Reaktion war purer Hohn: „Gehen Sie hinaus und umarmen Sie
einen Baum“.
Ähnliches musste ich immer wieder erleben. Sätze wie „Sie sind ja auch nicht mehr die Jüngste“ oder „Manchmal muss man sich halt zusammenreißen“ hörte ich immer wieder. In der stationären Schmerztherapie erklärte man mir, dass ich endlich einmal eine gewisse Schmerztoleranz entwickeln müsse – obwohl ich seit Jahrzehnten keinen Tag kannte, an dem ich keine Schmerzen hatte und sehr viel aushalten konnte. Dankbar bin ich in diesem Zusammenhang meinen Traumatherapeutinnen sowie meinem Hausarzt, die alle erkannten, dass ich nach wie vor über meine Grenzen gehe. Auch wenn ihnen nicht bewusst war, was hinter meiner starken Erschöpfung steckt, so motivierten sie mich doch regelmäßig, dass „Weniger mehr ist“. Dies war für mich sehr wichtig, da ich selbst unter einem sehr starken inneren Antreiber litt. Ich brauchte die Erlaubnis und Bestätigung – wenn nicht sogar den „Befehl“ von außen, weniger zu tun. Trotzdem crashte ich durchgehend, was sich bei mir v.a. in Krampfanfällen, Spastiken, Migräne, ständigen Erkältungen und Co. äußerte. In den schlimmsten Zeiten krampfte der ganze Körper über Stunden. Sprechen war kaum mehr möglich.
Erst nachdem ich ein antriebssteigerndes Antidepressivum mit Hilfe eines neuen Psychiaters über ein Jahr lang absetzte, konnte ich schrittweise und konsequent die Disziplin aufbringen, Pacing betreiben. Seitdem hatte ich keinen einzigen Krampfanfall mehr. Aber trotzdem passiert es mir bei allem Durchhaltevermögen immer noch, dass ich mich manchmal überfordere. Schwierig wird es v.a. dann, wenn unvorhersehbare Ereignisse eintreffen oder emotionale Belastungen hinzukommen. Auch starke Wetterumschwünge und Jahreszeitenwechsel belasten meine Körper mehr als mir lieb ist. Pacing ist alles andere als leicht, v.a. wenn man nach wie vor einen immensen Lebenshunger verspürt. Es bleibt wahrscheinlich die größte Herausforderung in meinem Leben.