Samstag, 11. Mai 2024

Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und ihre Folgen

Die komplexe PTBS wird diagnostiziert, wenn wiederholte Traumatisierungen über einen längeren Zeitraum stattfanden. Dies ist z.B. bei Erwachsenen während einer Geiselhaft, Inhaftierung, bei langanhaltender häuslicher Gewalt, im Krieg und auf der Flucht der Fall. Im Kindesalter spielen vor allem Vernachlässigung, Misshandlungen oder Missbrauch eine große Rolle.

 Menschen mit komplexen und oft frühen Traumafolgestörungen leiden unter denselben Symptomen der klassischen PTBS. Zusätzliche Symptome kommen jedoch noch hinzu. Sie haben meist Schwierigkeiten, Gefühle wahrzunehmen und zu kontrollieren, was regelrecht Angst vor Emotionen auslösen kann. Darüber hinaus kann die mangelnde Fähigkeit, die Gefühle unter Kontrolle zu halten, in Selbstverletzung, Suizidversuchen oder riskanten Sexualverhalten münden. Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit werden durch Dissoziation stark beeinträchtigt.[1]

In der Folge kann sich die Persönlichkeit der Betroffenen stark verändern. Obwohl die Betroffenen Opfer waren, fühlen sie sich oft schuldig angesichts dessen, was ihnen geschehen ist. Ohnmachtsgefühle und Hilflosigkeit führen zudem zu einem Gefühl der Aussichts- und Hoffnungslosigkeit. Bisherige Überzeugungen und Werte brechen in sich zusammen. Auch großes Misstrauen gegenüber Mitmenschen ist verbreitet. Paradoxerweise idealisiert manche Betroffene stattdessen die Täter und hält an schädigenden Beziehungen fest. Dadurch besteht ein großes Risiko, erneut zum Opfer zu werden. Und nicht zuletzt kann es leider auch vorkommen, dass Trauma-Überlebende selbst zu Tätern werden und andere Menschen zum Opfer machen.[i]

Die komplexe PTBS wird meist von weiteren psychischen Störungen wie z.B. Depression, Angst-, Ess- und Suchtstörungen sowie Somatisierung oder somatoforme Störungen begleitet oder gar überlagert, und wird daher nach wie vor oft übersehen, was wiederum zu Fehlbehandlungen führt. Eine Psychotherapie, die sich nur auf die – leicht ersichtlichen – Erkrankungen (z.B. Depression, Suchterkrankungen oder Essstörungen) konzentriert, wird den Betroffenen jedoch langfristig nicht helfen. Rückfälle sind daher nicht selten.

Erst jetzt wird die komplexe PTBS als offizielle Diagnose im ICD-11 aufgenommen, das 2022 in Kraft tritt.[ii] Auch in der neuen Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Traumafolgestörungen wurde die komplexe PTBS erst jetzt berücksichtigt und separat erläutert.[iii] Dies wird höchste Zeit, da die bisherige Behandlungs-Leitlinie, die hauptsächlich die klassische PTBS im Blick hatte, vielen Betroffenen nicht gerecht wurde. Für die Behandlung von komplex traumatisierten Personen muss grundsätzlich eine weitaus längere Therapiezeit und Stabilisierungsphase als bei der klassischen PTBS eingeplant werden.

Besonders häufig kommt die komplexe PTBS bei Traumata im Kindesalter vor. Diese werden auch als Entwicklungstraumata bezeichnet und haben weitreichende und schwerwiegende Folgen. Unter anderem kann die körperliche und psychische Entwicklung des Kindes stark beeinträchtigt werden. Bei einem schwertraumatisierten Kind entstehen andere, stressanfälligere Strukturen als bei einem Kind, das unbelastet aufwächst.[iv] Dissoziative Störungen z.B. treten vor allem nach schweren Traumatisierungen im Kindesalter auf. Des Weiteren sind körperliche Folgeerkrankungen aufgrund des – chronisch hohen – Stressniveaus und eines beeinträchtigten vegetativen Nervensystems nicht selten.

Aber oft bleibt die komplexe PTBS im Kindesalter unbemerkt bzw. verschwiegen, da gerade bei Gewalt in der Familie meist ein Schweigegebot besteht. Auch bei sex*** Missbrauch sind Sprechverbote die Regel. Ein aufmerksames Umfeld würde eventuell etwas bemerken. Jedoch wird häufig über die vielen kleinen und größeren Anzeichen, dass etwas nicht stimmt, hinweggesehen. Einer Studie zufolge[v] baten bereits in den letzten 70 Jahren viele Jugendliche, die missbraucht wurden, direkt bei den Jugendämtern um Hilfe. Sie wurden jedoch über Jahrzehnte hinweg nicht ernst genommen. Stattdessen glaubten die sozialpädagogischen Fachkräfte den Beteuerungen der Eltern oder waren überzeugt, dass trotz allem die Familie nach wie vor der beste Ort für die Jugendlichen sei.

Jüngere Kinder haben wiederum keinerlei Chance bei Gewalt oder Missbrauch in der Familie, wenn nicht Nachbarn, Lehrkräfte, Erzieher, Ärzte, Geschwister oder Freunde und Bekannte ihren Verdacht äußern.[vi] Aber nach wie vor schauen viele Mitmenschen bei solchen Vorkommnissen weg oder trauen sich nicht, diese zu melden. Und auch wenn heutzutage im Vergleich zu früher mehr auf eine verzögerte Entwicklung oder Verhaltensauffälligkeiten des Kindes geachtet wird, wird meist kein Zusammenhang zu einem verschwiegenen Trauma hergestellt.

  Später entwickeln frühtraumatisierte Jugendliche dann häufig Essstörungen, Süchte, Angststörungen, Zwangs- oder Borderline-Störungen sowie Depressionen, die inzwischen meist registriert und therapeutisch behandelt werden. Aber auch hier wird die posttraumatische Störung nicht oder erst später berücksichtigt, da die Jugendlichen aufgrund von weitreichenden Amnesien für die erfolgten Traumata oder wegen der Schweigegebote nicht über das Erlebte sprechen können. Manche Betroffene können dank der Amnesien sogar eine unauffällige Jugend verbringen und später als Erwachsene ein hinreichend normales Leben führen. Wenn jedoch das Trauma durch ein belastendes Ereignis oder einen Trigger[2] wieder in das Bewusstsein dringt, kann die Mauer der Amnesie fallen. Die Erwachsene wird mit den Erinnerungen an das schreckliche Erlebnis in der Kindheit überflutet. Viele Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen aus der Kindheit befinden sich daher bereits im mittleren Erwachsenenalter, wenn sie zum ersten Mal mit der Diagnose „Komplexe PTBS“ konfrontiert werden. Oft dauert es sogar Jahrzehnte, bis Traumafolgestörungen aus der Kindheit erkannt werden.

Manchmal kommt es auch vor, dass eine erwachsene KlientIn wegen eines aktuellen Traumas oder einer anderen psychischen Störung in der Gegenwart therapeutisch behandelt wird, obwohl diese – ohne es zu wissen – unter einer komplexen PTBS leidet. Durch Amnesien für frühere Traumata erinnert sie sich jedoch nicht und schildert somit in der Anamnese keine weiteren erlebten Traumata, was zu einer unzureichenden Diagnostik und Behandlung führen kann. Zudem verschweigen einige erwachsene KlientInnen die früheren Traumata aus Scham oder aufgrund eines noch bestehenden Sprechverbots. Wenn eine TherapeutIn dann nicht explizit nachfragt, wird sie davon nichts erfahren. Durch eine herkömmliche Traumatherapie und eine nach sich ziehende Trauma-Konfrontation können jedoch die Erinnerungen an längst verdrängte oder abgespaltene traumatische Erlebnisse hochkommen. Das Risiko der nachträglichen Destabilisierung ist groß, wenn danach nicht so schnell wie möglich wieder stabilisiert wird. In einem solchen Fall sollte die neu festgestellte komplexe Posttraumatische Belastungsstörung sofort therapiert werden.

 



[1] Dissoziative Störungen können weitreichende Einschränkungen und Problem verursachen. Dies wird im nächsten Kapitel erklärt.

[2] Trigger sind Dinge, Gerüche, Geräusche oder auch Orte oder Farben, die an das Trauma von früher erinnern.



[i] Reddemann, Luise und Cornelia Dehner-Rau (2004): Trauma: Folgen erkennen, überwinden und an ihnen wachsen: Ein Übungsbuch für Körper und Seele. S. 39

[ii] https://www.degpt.de/informationen/fuer-betroffene/trauma-und-traumafolgen/wie äußern-sich-traumafolgestörungen/komplexe-posttraumatische-belastungsstörung/, zuletzt aufgerufen am 13.09.2021. ICD-11 folgt ICD-10, das bereits erläutert wurde.

[iii] Schaefer, Ingo und weitere (2020): Diagnostik und Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung: Empfehlungen der neuen S3-Leitlinie in: Psychotherapeut 2020. Berlin: Springer Medizin Verlag GmbH, online veröffentlicht unter:  https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/19ffee4e6811e39529bc9e8237b4b67c39d57475/Schäfer_etal_2020_Diagnostik_BehandlungPTBSt.pdf, zuletzt aufgerufen am 13.09.2021

[iv] Reddemann, Luise und Cornelia Dehner-Rau (2004): Trauma: Folgen erkennen, überwinden und an ihnen wachsen: Ein Übungsbuch für Körper und Seele. S. 28

[v] Langer, Anette: „Angst hat mir mein Vater in die Wiege gelegt: Studie über sexuelle Gewalt in der Familie“, auf https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/sexuelle-gewalt-in-der-familie-studie-angst-hat-mir-mein-vater-in-die-wiege-gelegt-a-c73b6478-4a45-48ab-88d5-5f6cb4eafcab, zuletzt aufgerufen am 13.09.2021 und Andresen, Sabine und weitere: „Studie zur Sexuellen Gewalt in der Familie: Gesellschaftliche Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen  Kinder und Jugendliche von 1945 bis in die Gegenwart“, auf  https://www.aufarbeitungskommission.de/service-presse/presse/pressemitteilungen/aufarbeitungskommission-veroeffentlicht-studie-zu-sexuellem-kindesmissbrauch-in-der-familie/, zuletzt aufgerufen am 13.09.2021

[vi] Ebenda

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