Inzwischen gibt es immer mehr Genesungsprogramme
für ME/CFS, die online angeboten werden. Vor allem ehemals Betroffene, die sich
als geheilt bezeichnen, bieten zunehmend Online-Coachings an. In der Regel
konzentrieren sich diese auf das Brain Retraining oder Lifestyle-Coachings. Da
der Coaching-Markt nicht reguliert wird, ist es jedoch schwierig, die seriösen
und guten Angebote zu erkennen. Und auch wenn es genügend Menschen gibt, die von gewissen Programmen schwärmen, sehe ich doch kritische Tendenzen. Obwohl alle Programme auf guten Ansätzen
basieren, überschreiten manche Coaches ihre Kompetenzen und erhöhen sich
zunehmend – und werden zu Gurus. Abgewandelte Übungen, die in einer toxischen
Positivität münden, Druck und Co. können dabei eine gefährliche Wirkung haben. Überdies
sind die Standardinhalte nicht für alle Betroffene brauchbar, was dann oft in
Enttäuschung, Frustration und sogar Selbstvorwürfen mündet. Da meist nicht über
Nachteile, Nebenwirkungen und Risiken von Übungen aufgeklärt wird, können
manche Programme sogar nachhaltig schädigen. Aufklärung tut daher not, damit
Betroffene sich bei Interesse für die passenden Programme entscheiden können. Hier
sollte man achtsam bleiben. In diesem Zusammenhang bietet das Buch von Charlotte M. Raven „Nicht
noch ein Coaching-Buch“ einen erschreckenden, aber auch klaren Einblick in den
dysregulierten Coaching-Markt und zeigt die Wichtigkeit auf, sich vorab
genauestens zu informieren.
Entscheidungshilfen vor dem Kauf eines Programms
Wenn Sie „alles aus einer Hand“
haben wollen und sich nicht die Mühe machen wollen, die einzelnen Inhalte zu
sammeln, ergibt ein solches Programm sicherlich Sinn. Sie sollten sich dann
jedoch auf ein Programm konzentrieren, das von erfahrenen Fachleuten ins Leben
gerufen wurde – und idealerweise eine individuelle Begleitung dazubuchen.
Gerade in einer Zeit, in der immer mehr ehemals Betroffene ohne ausreichende Ausbildung
ihre Erfahrungen in Form eines Online-Genesungsprogramms weitergeben wollen,
ist es zudem von entscheidender Wichtigkeit, das Programm und den Coach vorab
zu überprüfen.
Hilfestellung können einige Fragen geben, die Sie vor der Buchung eines solchen Programms immer stellen sollten:[i]
a) Werden Heilversprechen gegeben?
b) Welche Ausbildung haben die Programm-Anbieter und einzelnen Coaches?
c) Welche Inhalte werden in dem Programm angeboten?
d) Gibt es zumindest die Möglichkeit, sich das Inhaltsverzeichnis anzuschauen?
e) Werden Allgemeinplätze erhoben wie „Therapie XY hilft immer“?
f) Wird mit Übertreibungen gearbeitet?
f) Konzentrieren sich die Anbieter auf gewisse Inhalte, die sie aufgrund ihrer Ausbildung auch beherrschen?
g) Wird darauf aufmerksam gemacht, dass bei psychischen Erkrankungen eine Psychotherapie notwendig ist?
i) Werden Übungen und Inhalte, die in eine Psychotherapie gehören, ausgeklammert?
k) Nehmen die Anbieter und Coaches Supervision in Anspruch?
l) Werden die Übungen differenziert dargestellt? Wird u.a. auch auf Nachteile, Grenzen und Vorsichtsmaßnahmen sowie Varianten hingewiesen?
m) Ist die Preisgestaltung transparent?
n) Sind die Vertragsmodalitäten einsehbar?
o) Sind Referenzen verfügbar? Klingen diese glaubwürdig?
Wenn ein Programmanbieter nicht bereit ist, diese Fragen zu beantworten bzw. die notwendigen Informationen bereitzustellen, dann sollten die Alarmglocken klingeln. Bei einer Investition von mind. mind. 300 bis 400,- EUR haben Sie das Recht, diese Informationen einzufordern.
Vor allem sollten Sie bei der Auswahl folgende Punkte
berücksichtigen:
a) Unseriöse Heilversprechen und Druck
Abstand sollten Sie von Programmen halten, die mit unseriösen Heilversprechen verbunden sind. Die Neuregulierung des autonomen Nervensystems sowie Pacing und Co. sind wichtig, um die Folgen der ME/CFS und MCAS zu lindern. In der Regel ist ein solches Programm jedoch nie alleinverantwortlich für eine Heilung. Wenn man genauer nachfragt, haben die meisten Menschen, die geheilt wurden, parallel andere Therapien und Wege beschritten. Lassen Sie sich daher bitte durch die Aussagen in manchen Programmen nicht unter Druck setzen!
b) Toxische Positivität
Ein großer Kritikpunkt in manchen Programmen ist die toxische Positivität mancher Übungen.[ii] Die Klienten werden in den betreffenden Programmen angeleitet, mit abgeänderten Grübelstopps und Co. all ihre schlechten Gedanken und Gefühle zu verdrängen. Dieses Vorgehen soll zu einer positiven Grundhaltung und zur Heilung beitragen. Das ist jedoch ein Trugschluss und zudem gefährlich. Nicht verarbeitete Emotionen verschwinden nicht einfach. Im Gegenteil: Sie stauen sich auf: Auf Dauer fühlen sich Menschen, die einen Teil ihrer Gefühlswelt verdrängen, daher nur noch schlechter. Körperliche Probleme folgen. Dies wusste schon Sigmund Freud.
Unbestritten ist, dass eine positive Grundhaltung die psychische und
körperliche Gesundheit verbessern kann. Diese lässt sich jedoch nicht
erzwingen, sondern sollte durch positive Erlebnisse, also z.B. durch
Ressourcenorientierung gefördert werden. Parallel sollten die negativen
Gedanken und Gefühle nicht verdrängt werden. Sie haben ihre Berechtigung und
gehören zum Leben dazu: Negative Gedanken und Gefühle weisen uns auf Probleme
und unstimmige Situationen hin und motivieren uns, nach Lösungen zu suchen. Sie
machen uns authentisch, was uns mit unserer Umwelt verbindet. Daher geht es in
einem gesunden und emotional ausgewogenen Leben darum, den richtigen Umgang mit
den negativen Gefühlen zu finden. Jüngste Forschungen haben bereits ergeben,
dass Menschen mit einer vielfältigen Gefühlswelt („Emodiversity“) eine
niedrigere Konzentration an entzündungsfördernden Stoffen im Blut aufweisen.[iii]
Der Druck, der durch die Verdrängung der negativen Gedanken und Gefühle, auf
die Klienten ausgeübt wird, ist groß. Wenn diese es nicht schaffen, diese zu
unterdrücken, wird vermittelt, dass sie „etwas falsch machen“ bzw. „ihr Mindset
noch ändern müssten“. Dies führt bei den Betreffenden u.a. zu Schuldgefühlen
und Scham – und zu einem Teufelskreis.
c) Die Coaching-Szene ist nicht reguliert
Heutzutage kann sich praktisch jeder als Coach bezeichnen. Dies wird in einer Zeit, in der es sehr lukrativ sein kann, als Youtuber oder Influencer aktiv zu sein, zu einem Problem. Privatpersonen, die das Programm aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen aufgebaut haben, können jedoch maximal als Ratgeber fungieren. Auch andere Berufsgruppen, die sich um fachfremde Themen kümmern, können eine psychotherapeutische Betreuung nicht leisten. Damit überschreiten viele schlecht ausgebildete Coaches eindeutig ihre Kompetenzen und damit auch die Grenzen der Klienten. Coaches sollten sich daher unbedingt auf ihre Fachgebiete konzentrieren, um glaubwürdig zu bleiben.
d) Hohe Kosten
Die Kosten für die Online-Genesungsprogramme sind hoch. Ohne Einzelcoaching kostet ein Programm durchschnittlich zwischen 300 und 400 EUR. Wenn man bedenkt, dass die Programme standardisiert sind und zudem nur einen kleinen Ausschnitt der Möglichkeiten beinhalten, die sich z.B. zur Nervus Vagus-Regulierung eignen, dann ist das ein stolzer Preis. Betroffene sollten sich darüber im Klaren sein, dass der Großteil der Theorie sowie der Übungen kostengünstiger online sowie in Büchern zu erhalten ist.
[i] Raven, Charlotte M. (2023): Nicht noch ein Coaching-Buch, S. 184. Komplett-Media. München
[ii] Kirchgeßner, David: „Selbstoptimierung und Life Coaches: Gefährlicher Trend oder doch zum Lachen?“, auf https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/selbstoptimierung-und-life-coaches-gefaehrlich-oder-zum-lachen-100.html, zuletzt aufgerufen am 19.03.2024
[iii] https://www.emodiversity.org/, zuletzt aufgerufen am 19.03.2024 sowie https://emotionen-info.de/2017/09/21/emodiversitaet/, zuletzt aufgerufen am 19.03.2024