Über obige Frage wird in manchen Foren und Gruppen teilweise auf heftigste Art und Weise diskutiert. Die Diskussionen haben bisweilen eine Schärfe, die mich sehr erschreckt. Nicht selten führen sie dazu, dass das eine oder andere Mitglied ein Forum oder eine Gruppe wieder verlässt. Beklagenswert ist dabei ein Schwarz-Weiß-Denken, das ich grundlegend ablehne.
Denn in den Chats wird oft gar nicht geklärt, worüber man genau streitet:
- Geht es um Long Covid, wo bewiesen wurde, dass ein Teil der Betroffenen wieder gesund werden kann?
- Geht es um eine reine Fatigue, die oft als Nachwirkung von anderen Erkrankungen auftritt?
- Oder ist es wirklich eine diagnostizierte ME/CFS?
Auch wird bei dieser Frage häufig außer Acht gelassen, dass jüngere Menschen sehr viel mehr Chancen haben zu genesen als ältere Betroffene – und dass selbstverständlich die Dauer der Erkrankung eine Rolle spielt. Ein weiterer Faktor, der oft vernachlässigt wird, sind die Begleit- und Folgeerkrankungen, die es zu beachten gilt, wenn man über die Frage der Heilungschancen spricht. Und schlussendlich gibt es die Erfahrung einiger langjährigen Erkrankten, die über einen wellenförmigen Verlauf der Erkrankung berichten können – und daher in ihrem Leben Phasen hatten, in denen sie als „geheilt“ galten, aber eben auch Rückfälle zu verzeichnen haben. Eine differenzierte Sichtweise tut daher dringend Not, für die ich an dieser Stelle nochmals plädieren möchte.
Auch ich hatte zu Beginn meiner Erkrankung nach einem Jahr der Erkrankung das Gefühl, wieder gesund zu sein. Damals ging ich noch von einer psychischen Ursache sowie einem Burnout aus. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich 2005 auf unserer Hochzeit das Gefühl hatte, wie „Phönix aus der Asche“ wiedergeboren zu sein. Wenn ich damals schon in Foren unterwegs gewesen wäre, dann hätte ich das auch genauso dargestellt.
Heute muss ich angesichts dessen, was mich später noch alles erwarten sollte, leise schmunzeln. Ich war ganz und gar nicht geheilt. Und die Entscheidung wieder ins Berufsleben zurückzukehren, war eine der dümmsten Entscheidungen angesichts der schweren Erkrankung. Ende 2006 war ich ein Wrack und kränker denn je. Aber leider wusste ich damals noch nicht, woran ich wirklich leide.
Völlig unangebracht finde ich zudem manche Kommentare
von Leuten, denen es dank einzelner Maßnahmen wie Gupta, Blutwäsche besser geht
wie z.B. „Du bist nur noch nicht gesund, weil Dein Mindsetting nicht stimmt.“
Es ist in Ordnung, wenn wieder Genesene stolz auf sich sind. Sie sollten sich
jedoch immer vor Augen führen, wie unterschiedlich sich diese Erkrankung zeigen
kann. Den wenigsten hilft nur eine Maßnahme, sondern eine Kombination vieler
unterschiedlicher Methoden. Viele haben gar nicht das notwendige Geld, um
manche Therapie zu bezahlen und sich dadurch bereits abgehängt. Und zu guter
Letzt sind für manche Menschen gewisse Methoden einfach kontraindiziert, z.B.
bei MCAS. Daher sollten wir Betroffenen bei allen Bemühungen demütig bleiben –
und in guten Phasen achtsam bleiben, um uns nicht zu überfordern. Menschen,
denen es wieder besser geht, sollten sich darüber im Klaren sein, dass es immer
wieder Rückfälle geben kann. Skeptiker, die an absolut keine Heilung glauben,
sollten sich wiederum daran erfreuen, dass es anderen gerade wieder gut geht –
und deren Erkrankung nicht in Frage stellen.
Lasst uns daher bei diesen Diskussionen
auf das Gemeinsame besinnen: Wir wollen, dass es uns besser geht! Wir wollen
wieder mehr Lebensqualität und wieder einen normaleren Alltag haben. Und wir wünschen
uns Linderung von unseren Schmerzen.
Hilfreich ist in diesem Sinne, Heilung nicht als Ziel, sondern als Weg
zu begreifen. Mit diesem Verständnis ist Heilung kein punktuelles, einmaliges
Ereignis, sondern ein Prozess. Betroffene beginnen diesen mit ihrer
Entscheidung, sich mit ihrer Heilung zu beschäftigen. Sie begeben sich damit
auf einen Weg, der aus vielen kleinen und großen Schritten besteht. Egal, ob am
Ende Genesung oder Linderung von Beschwerden steht: Der Weg sollte zumindest beschritten
werden.
Ich vergleiche meinen Heilungsweg gern mit einer Spirale oder einer Wendeltreppe. Oft begegnen mir alte Themen und Symptome wieder, aber meist auf einem höheren Bewusstseinsniveau und mit einem anderen Hintergrundwissen sowie einer gewachsenen Handlungsfähigkeit. Bei jeder Begegnung mit einem Thema habe ich mehr Boden unter den Füßen.[i] So wachse ich in Kreisen und werde mit jeder neuen Erkenntnis ein wenig ruhiger und körperlich sowie emotional gesünder. Auch wenn ich das Ende der Spirale nicht sehen kann, bleibe ich auf meinem Weg. Denn er lohnt sich. Die Symptome werden weniger und nehmen in ihrer Stärke ab. Da ich inzwischen genügend Basiswissen über die Entstehung und Wirkung der einzelnen Symptome habe, kann ich viele auch besser einschätzen und kontrollieren. Ich kann mich besser entspannen.
Zudem ist mein Körper zum festen Bestandteil meiner Selbst geworden. Er ist mein Frühwarnsystem und muss aufgrund meiner Erkrankungen vor vielen Einflüssen geschützt werden. Aber er bekommt nun auch meine volle Aufmerksamkeit. Ich spüre ihn inzwischen meistens und nehme ihn wahr. Darüber hinaus kann ihn inzwischen pflegen und gut für ihn sorgen. Jedoch ist mein Wohlergehen auf ein wohltuendes und liebevolles sowie freundliches Umfeld angewiesen. Darum muss ich mich nach wie vor sehr schützen. Ein „kleines, feines Leben“ ist unabdingbar. Viel Ruhe, Routine, Stille und Achtsamkeit begleiten mich in meinem Alltag. Daher ist mein Weg der „Heilung“ auch noch nicht zu Ende. Es ist gut möglich, dass er auch mein ganzes weiteres Leben bestimmen wird. Auch ich habe schlechte Zeiten, an denen ich verzweifle. Aber es ist meistens ein guter Weg, der mich mit Vielem beschenkt. Daher bin ich trotz allem in den meisten Zeiten dankbar und glücklich. Ich habe die starke Zuversicht, dass „Heilung“ zwar nicht im medizinischen, aber in einem übergreifenden Sinne möglich ist.
[i] Lee Cori, Jasmin (2015): Das große Trauma-Selbsthilfebuch: Symptome verstehen und zurück ins Leben finden. S. 137/ 138.