Für manche Menschen sind Online-Genesungsprogramme nicht oder nur teilweise geeignet. Einige Beispiele will ich hier – auch aus eigener Erfahrung und auf Basis des Erfahrungsaustausches – nennen:
a) Psychische Erkrankungen der Betroffenen
Bei ME/CFS und MCAS kommen Angst-
und Panikattacken häufig vor. Auch ist eine Depression als Reaktion auf die
schweren Erkrankungen nicht selten. Und nicht zuletzt haben manche Personen
unbewältigte Traumata aus der Vergangenheit, die bisher verdrängt wurden und
nun in Zeiten der körperlichen Schwäche nach oben drängen.
Früher gab es die klare Regel, dass ein Coach nur gesunde Menschen berät. Die
Selbstverpflichtung eines Coaches sieht zudem vor, psychisch Erkrankte auf eine
notwendige Psychotherapie hinzuweisen – und vor allem diese Themen nicht selbst
zu behandeln. Diese Regel wird in vielen Online-Coachings kaum mehr gehandhabt,
was weitreichende Schädigungen und Retraumatisierungen zur Folge haben kann.
U.a. hängt dies auch mit der fehlenden Kompetenz vieler Coaches zusammen.
Schlecht ausgebildete Coaches erkennen nicht, wenn ihr Gegenüber psychisch
instabil ist. Bei den Standardprogammen wiederum gibt es zudem gar keine
Möglichkeit, psychische Instabilitäten bei den Klienten zu entdecken. Die Verantwortung
wird auf die Klienten übertragen.
Und selbst wenn manche Coaches die Problematik erkennen, überschreiten viele ihre Grenzen und behandeln dann weiter auf therapeutischem Gebiet – obwohl eine Psychotherapie angesagt wäre. Dabei machen sie Fehler, die für die Klienten gefährlich sein können. Viele Coaches wissen z.B. meist nicht, dass Meditationen für Menschen mit Traumafolgestörungen oder Depressionen kontraindiziert sind.[i] Darüber hinaus wird in vielen Brain Retrainings die Arbeit mit Innenanteilen angeboten, was jedoch bei psychischen Erkrankungen hochexplosiv sein kann.
Bei vergangenen Traumata,
begleitenden Depressionen, Panik- oder Angstattacken ist daher eine angepasste
Psychotherapie unabdingbar. Daher stellt sich die Frage, ob bei gravierenden
Problemen eine begleitende Therapie zur Krankheitsbewältigung nicht grundsätzlich
sinnvoller ist. Gerade in der heutigen Zeit, in der manche Therapeuten auch
über Zoom arbeiten, ist eine individuelle Begleitung, die auf Sie zugeschnitten
ist, sicherlich vorteilhafter. Ein Online-Genesungsprogramm, das sich auf die
anderen Themen konzentriert, kann dann immer noch zur Ergänzung sinnvoll sein.
b) Hochsensibilität der Betroffenen
Auch bei einer Hochsensibilität
sollten Erkrankte zumindest in Bezug auf Meditationen sehr vorsichtig sein –
und diese nicht zu lange durchführen. Auch wenn in dem weltweit bekannten
Gupta-Programm z.B. empfohlen wird, mind. zweimal am Tag für jeweils mind. 30
Minuten zu meditieren, sollte man sich davon nicht unter Druck setzen lassen.
Inzwischen ist durch Forschungen erwiesen, dass intensives Meditieren auch
gefährliche psychische Nebenwirkungen haben kann. Jeder Zehnte, der sich in
einem höheren Maße mit Meditationen beschäftigt, entwickelt demzufolge Ängste,
traumatische Flashbacks oder Hypersensibilität. Auch dissoziative Störungen
sowie Wahnvorstellungen können auftreten.[ii]
c) Atemprobleme der Betroffenen
In den meisten Online-Programmen finden Sie Standard-Atemübungen. Die Urheber
der Programme vernachlässigen jedoch die Individualität der einzelnen
Betroffenen. Manche haben Lungenerkrankungen durch Long Covid, andere ein
verspanntes Zwerchfell. Leute wie ich wiederum stressen sich zu sehr mit den
Atemübungen, was zu einer paradoxen Wirkung führt. Darüber hinaus sind viele
Atemübungen nur im entspannten Zustand sinnvoll. Hier wird deutlich, dass eine
individuellere Begleitung, Alternativangebote sowie das Angebot, sich erst
einmal auszuprobieren, völlig fehlt. Im Gegensatz dazu wird den Klienten
vermittelt, dass sie etwas falsch machen, wenn es nicht funktioniert – obwohl
diese bei Ablenkung völlig normal atmen bzw. in einer Physiotherapie oder bei
einer Atemtrainerin Erfolge erzielen können.
d) Ernährungsunverträglichkeiten der Betroffenen
Gerade bei ME/CFS und MCAS leiden
viele Erkrankte unter vielfachen Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Daher sind
Standard-Ernährungstipps aus den Online-Programmen nicht hilfreich, wenn nicht
sogar schädlich. Meist benötigen die Betroffenen eine individuelle
Ernährungstherapie.
e) Vorhandene Erfahrungen der Betroffenen
Menschen, die sich in ihrem Leben bereits durch Psychotherapie,
Entspannungsübungen und Co. mit dem autonomen Nervensystem und der
Neuroplastizität des Gehirns beschäftigt haben, erfahren in den meisten
Programmen nichts Neues. Wenn die Betreffenden sich zudem bereits mit dem
Pacing eingehender beschäftigt haben, dürften sie in der Regel genügend Wissen
und Erfahrung haben, um auf eigene Faust weiterzuarbeiten.
f) Reizüberflutung der Betroffenen
Da die Programme grundsätzlich
auf Video-Vorträgen basieren – und nur teilweise ein Skript beigelegt wird –
müssen sich die Klienten regelmäßig unterschiedliche Videos anschauen. Das kann
anstrengend sein. Daher sollte sich jeder Interessent vorab gut überlegen, ob
er dies kräftemäßig überhaupt schaffen kann – oder ob eine individuelle
persönliche Betreuung bzw. die Lektüre von Büchern nicht sinnvoller sind.
g) Hohe Anspannung der Betroffenen
Fast alle Programme haben das
Ziel, die Fehlfunktion des autonomen Nervensystems zu lindern und zu
reparieren. Dafür werden in der Regel Meditationen, Atemübungen und
Affirmationen angeboten. Kaum ein Urheber hat jedoch daran gedacht, dass all
diese Übungen erst in einem relativ entspannten Zustand funktionieren – und
dass die meisten Betroffenen diesen Zustand kaum ohne Hilfe bzw. andere Übungen
erreichen können. Dieses Thema wird außen vorgelassen, was gravierende Folgen
haben kann. Bekannte Konzepte zur Spannungsregulierung aus der Psychotherapie
(DBT- und Skill-Training, traumasensitives Yoga, Qi Gong etc.) fehlen.[1] Im besten Fall merken die Betreffenden
selbst, dass ihnen die Meditationen und Atemübungen im erregten Zustand nicht
guttun. Schlimmstenfalls versuchen es die Klienten jedoch immer wieder und
geraten dadurch noch mehr in Stress, was Zustandsverschlechterungen nach sich
ziehen kann. Es wäre ein Leichtes, die Programme zu ergänzen und so eine Lücke
zu schließen.
Aber auch wenn einige der oben genannten Kriterien auf Sie zutreffen, kann ein Online-Genesungsprogramm für Sie geeignet sein – wenn Sie auf sich achtgeben, kritisch bleiben und gegebenenfalls einige Themen auslassen.