Mittwoch, 22. Mai 2024

Online-Genesungsprogramme: Für wen sind diese Programme nur teilweise/ bedingt geeignet?


Für manche Menschen sind Online-Genesungsprogramme nicht oder nur teilweise geeignet. Einige Beispiele will ich hier – auch aus eigener Erfahrung und auf Basis des Erfahrungsaustausches – nennen:

a)     Psychische Erkrankungen der Betroffenen

Bei ME/CFS und MCAS kommen Angst- und Panikattacken häufig vor. Auch ist eine Depression als Reaktion auf die schweren Erkrankungen nicht selten. Und nicht zuletzt haben manche Personen unbewältigte Traumata aus der Vergangenheit, die bisher verdrängt wurden und nun in Zeiten der körperlichen Schwäche nach oben drängen.

Früher gab es die klare Regel, dass ein Coach nur gesunde Menschen berät. Die Selbstverpflichtung eines Coaches sieht zudem vor, psychisch Erkrankte auf eine notwendige Psychotherapie hinzuweisen – und vor allem diese Themen nicht selbst zu behandeln. Diese Regel wird in vielen Online-Coachings kaum mehr gehandhabt, was weitreichende Schädigungen und Retraumatisierungen zur Folge haben kann. U.a. hängt dies auch mit der fehlenden Kompetenz vieler Coaches zusammen. Schlecht ausgebildete Coaches erkennen nicht, wenn ihr Gegenüber psychisch instabil ist. Bei den Standardprogammen wiederum gibt es zudem gar keine Möglichkeit, psychische Instabilitäten bei den Klienten zu entdecken. Die Verantwortung wird auf die Klienten übertragen.

Und selbst wenn manche Coaches die Problematik erkennen, überschreiten viele ihre Grenzen und behandeln dann weiter auf therapeutischem Gebiet – obwohl eine Psychotherapie angesagt wäre. Dabei machen sie Fehler, die für die Klienten gefährlich sein können. Viele Coaches wissen z.B. meist nicht, dass Meditationen für Menschen mit Traumafolgestörungen oder Depressionen kontraindiziert sind.[i] Darüber hinaus wird in vielen Brain Retrainings die Arbeit mit Innenanteilen angeboten, was jedoch bei psychischen Erkrankungen hochexplosiv sein kann.

Bei vergangenen Traumata, begleitenden Depressionen, Panik- oder Angstattacken ist daher eine angepasste Psychotherapie unabdingbar. Daher stellt sich die Frage, ob bei gravierenden Problemen eine begleitende Therapie zur Krankheitsbewältigung nicht grundsätzlich sinnvoller ist. Gerade in der heutigen Zeit, in der manche Therapeuten auch über Zoom arbeiten, ist eine individuelle Begleitung, die auf Sie zugeschnitten ist, sicherlich vorteilhafter. Ein Online-Genesungsprogramm, das sich auf die anderen Themen konzentriert, kann dann immer noch zur Ergänzung sinnvoll sein.

b)     Hochsensibilität der Betroffenen

Auch bei einer Hochsensibilität sollten Erkrankte zumindest in Bezug auf Meditationen sehr vorsichtig sein – und diese nicht zu lange durchführen. Auch wenn in dem weltweit bekannten Gupta-Programm z.B. empfohlen wird, mind. zweimal am Tag für jeweils mind. 30 Minuten zu meditieren, sollte man sich davon nicht unter Druck setzen lassen. Inzwischen ist durch Forschungen erwiesen, dass intensives Meditieren auch gefährliche psychische Nebenwirkungen haben kann. Jeder Zehnte, der sich in einem höheren Maße mit Meditationen beschäftigt, entwickelt demzufolge Ängste, traumatische Flashbacks oder Hypersensibilität. Auch dissoziative Störungen sowie Wahnvorstellungen können auftreten.[ii]

c)      Atemprobleme der Betroffenen

In den meisten Online-Programmen finden Sie Standard-Atemübungen. Die Urheber der Programme vernachlässigen jedoch die Individualität der einzelnen Betroffenen. Manche haben Lungenerkrankungen durch Long Covid, andere ein verspanntes Zwerchfell. Leute wie ich wiederum stressen sich zu sehr mit den Atemübungen, was zu einer paradoxen Wirkung führt. Darüber hinaus sind viele Atemübungen nur im entspannten Zustand sinnvoll. Hier wird deutlich, dass eine individuellere Begleitung, Alternativangebote sowie das Angebot, sich erst einmal auszuprobieren, völlig fehlt. Im Gegensatz dazu wird den Klienten vermittelt, dass sie etwas falsch machen, wenn es nicht funktioniert – obwohl diese bei Ablenkung völlig normal atmen bzw. in einer Physiotherapie oder bei einer Atemtrainerin Erfolge erzielen können. 

d)     Ernährungsunverträglichkeiten der Betroffenen   

  Gerade bei ME/CFS und MCAS leiden viele Erkrankte unter vielfachen Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Daher sind Standard-Ernährungstipps aus den Online-Programmen nicht hilfreich, wenn nicht sogar schädlich. Meist benötigen die Betroffenen eine individuelle Ernährungstherapie.

e)      Vorhandene Erfahrungen der Betroffenen

Menschen, die sich in ihrem Leben bereits durch Psychotherapie, Entspannungsübungen und Co. mit dem autonomen Nervensystem und der Neuroplastizität des Gehirns beschäftigt haben, erfahren in den meisten Programmen nichts Neues. Wenn die Betreffenden sich zudem bereits mit dem Pacing eingehender beschäftigt haben, dürften sie in der Regel genügend Wissen und Erfahrung haben, um auf eigene Faust weiterzuarbeiten.

f)      Reizüberflutung der Betroffenen

Da die Programme grundsätzlich auf Video-Vorträgen basieren – und nur teilweise ein Skript beigelegt wird – müssen sich die Klienten regelmäßig unterschiedliche Videos anschauen. Das kann anstrengend sein. Daher sollte sich jeder Interessent vorab gut überlegen, ob er dies kräftemäßig überhaupt schaffen kann – oder ob eine individuelle persönliche Betreuung bzw. die Lektüre von Büchern nicht sinnvoller sind.

g)     Hohe Anspannung der Betroffenen

Fast alle Programme haben das Ziel, die Fehlfunktion des autonomen Nervensystems zu lindern und zu reparieren. Dafür werden in der Regel Meditationen, Atemübungen und Affirmationen angeboten. Kaum ein Urheber hat jedoch daran gedacht, dass all diese Übungen erst in einem relativ entspannten Zustand funktionieren – und dass die meisten Betroffenen diesen Zustand kaum ohne Hilfe bzw. andere Übungen erreichen können. Dieses Thema wird außen vorgelassen, was gravierende Folgen haben kann. Bekannte Konzepte zur Spannungsregulierung aus der Psychotherapie (DBT- und Skill-Training, traumasensitives Yoga, Qi Gong etc.) fehlen.[1]  Im besten Fall merken die Betreffenden selbst, dass ihnen die Meditationen und Atemübungen im erregten Zustand nicht guttun. Schlimmstenfalls versuchen es die Klienten jedoch immer wieder und geraten dadurch noch mehr in Stress, was Zustandsverschlechterungen nach sich ziehen kann. Es wäre ein Leichtes, die Programme zu ergänzen und so eine Lücke zu schließen.

Aber auch wenn einige der oben genannten Kriterien auf Sie zutreffen, kann ein Online-Genesungsprogramm für Sie geeignet sein – wenn Sie auf sich achtgeben, kritisch bleiben und gegebenenfalls einige Themen auslassen.



[1] Siehe Kapitel „DBT-Therapie: Skill-Orientierung“



[i] Huber, Linda vom SWR (2024): „Risiken der Achtsamkeit Krank durch Meditation?“ auf https://www.tagesschau.de/investigativ/swr/meditation-risiken-nebenwirkungen-100.html, zuletzt aufgerufen am 19.03.2024

[ii] Ebenda

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