Spiritualität: Der Sinn im Leben[i]
Spiritualität ist ein wunderschönes, zugleich aber ein so schwer greifbares Wort. Es gibt bis heute keine einfache oder einheitliche Definition für diesen Begriff, da diese stark von dem jeweiligen kulturellen Umfeld abhängt. Zum besseren Verständnis möchte ich Spiritualität daher hier mit der Offenheit gegenüber einer geistigen (und damit nicht-materiellen) Welt gleichsetzen.[ii] Damit verbunden ist der Glaube, dass es eine höhere Wirklichkeit und damit einen Sinn im Leben gibt, der in allem sichtbar wird. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein Mensch nicht an Gott glauben muss, um spirituell zu sein. Spiritualität ist damit nicht dasselbe wie Religion. Aber alle Anhänger von Religionen haben wiederum eines gemeinsam: Sie glauben an eine geistige Welt und einen tieferen Sinn im Leben. Sie streben nach etwas Höherem – und sind damit spirituell.
Der Glaube an einen Sinn in diesem Leben und das Gefühl der
Zugehörigkeit zu dieser Welt geben Kraft, Sinn und Zuversicht. Spiritualität
schenkt Frieden und Ruhe. Sie verleiht Mitgefühl mit der Natur und ihren
Geschöpfen. Zudem gibt sie uns Antworten auf Fragen, die wir uns in unserem
Innersten immer wieder stellen. Gerade aber Menschen, denen durch eine so
schwere Erkrankung so viel Lebensqualität genommen wurde, verlieren –
vorübergehend oder manchmal für immer – ihre eigene Spiritualität. Sie finden mit
all dem Leid keinen inneren Frieden mehr. Auf die Frage, wie ein Gott oder das
Universum all das persönliche Leid – und auch das Leid auf dieser Erde –
zulassen kann, werden keine Antworten mehr gefunden. Die Menschen fühlen sich
verlassen. Der Glaube an eine höhere und gute Kraft wurde maßlos enttäuscht und
ist verloren.
Auch Menschen, die mit dem Bild eines strafenden und strengen Gottes
aufwuchsen, haben große Probleme mit der Spiritualität. Es ist verständlich,
wenn Religion oder Spiritualität dann für immer negativ besetzt sind. Auch ist
es nachvollziehbar, wenn die Beschäftigung mit dem Thema vermieden wird.[iii]
Dies muss auch unumwunden akzeptiert werden.
Sollten Sie sich jedoch für eine
vorsichtige (Wieder-)Annäherung an Ihre Spiritualität interessieren, empfiehlt
sich der Kontakt zur Natur. Eine Möglichkeit, achtsam mit der
Natur in Verbindung zu kommen, ist das „Waldbaden“[iv].
Seit einigen Jahren hat sich diese Freizeitbeschäftigung, die in Japan
etabliert wurde, auch in Deutschland einen Namen gemacht. In Japan wurde
Shinrin-Yoku, japanisch für „Baden im Wald“, bereits seit 1982 als
Gesundheitsmaßnahme gepriesen. Es ist jedoch kein einfacher Spaziergang durch
den Wald. Man muss dabei nicht viele Meter hinter sich bringen. Vielmehr
tauchen die Kursteilnehmer mit allen Sinnen in die Stille und Natur der Wälder
ein. Auch die Imaginationsübung "Der Baum" kann hier hilfreich sein. Durch diese Übung, die Sie auch im Liegen durchführen können, bekommen Sie eine
Ahnung, wie stark und kraftvoll ein Baum sein kann – und wie viel er uns
Menschen beibringen kann.
Darüber hinaus kann die Achtsamkeit uns zu einer tiefen Spiritualität führen. Sie hat ihren Ursprung im Buddhismus und ist damit nicht nur eine Methode zur Stressbewältigung. Vor allem der Zen-Buddhismus lebt durch Achtsamkeit und die Konzentration auf den täglichen Moment: „Der Weg ist Dein tägliches Leben.“ Die Wahrnehmung der Natur und der Jahreszeiten hat dabei eine große Bedeutung. Teezeremonie, Ikebana, Kalligrafie, Schwertkampf oder auch Judo sind Teil dieses Wegs, der nach wie vor von Millionen von Menschen beschritten wird.
In Europa hat sich Achtsamkeit durch Jon Kabat-Zinn und die Methode MBSR
„Mindfulness-Based Stress Reduction“ einen Namen gemacht.[v]
Unabhängig von der Religion eines Menschen, gilt Achtsamkeit hier als die nicht-bewertende Wahrnehmung dessen, was in jedem
Augenblick geschieht. Damit werden wir in die Lage versetzt, uns und damit
unsere Körperempfindungen, Gedanken, Gefühle und alle anderen Wahrnehmungen zu
erfahren und so zu akzeptieren, wie sie sind. Dadurch erleben wir das Leben,
wie es sich von Augenblick zu Augenblick entfaltet.[vi] Laut Jon Kabat-Zinn ist „… Achtsamkeit eine hochwirksame Methode, uns
wieder in den Fluss des Lebens zu integrieren und uns dadurch mit unserer
Weisheit und Vitalität in Berührung zu bringen.“[vii]
Sie können Ihre Achtsamkeit z.B. beim Essen testen. Eine sehr bekannte
Achtsamkeitsübung ist die „Rosinen-Übung“, die natürlich auch mit anderen
Lebensmitteln funktioniert.
Manche Betroffene entdecken ihre Spiritualität wiederum in der Kunst, die als Ausdruck der Seele und Persönlichkeit seit Jahrtausenden unser Leben widerspiegelt. Kunstwerke können uns damit Antworten geben auf Fragen, die uns immer wieder bewegen. Und wir finden uns in ihnen wieder. Hatten Sie nicht auch schon einmal das Gefühl, in einer Ausstellung von einem Bild magisch angezogen zu werden? Kennen Sie die Geschichte von Frida Kahlo, die schwerkrank viele ihrer Bilder im Bett gemalt hat? Und wer kennt nicht die Gänsehaut bei gewissen Konzerten oder das Gefühl, dass genau dieses eine Lied die Antwort auf all seine Fragen enthält? Egal, ob Musik oder Malerei, Gedichte oder Romane, Bildhauerei oder Architektur: Überall erzählen Künstler vom Leben und dem Sinn des Lebens, von dem Wunder der Natur und ihrem Glauben, von Vergangenheit und Zukunft, von Geschichte und Vision. Wenn Sie selbst malen, musizieren oder schreiben, wissen Sie das sicherlich.
Und nicht zuletzt bleiben viele Erkrankte in ihrem Glauben oder finden wieder zu diesem zurück. Selbst wenn sie
sich in einer Kirchengemeinde nicht mehr wohlfühlen oder Gottesdienste nicht
mehr besuchen können, so finden sie doch den Weg zurück in eine Kirche, die für
sie als Ort der Besinnung und des Gebets wichtig geworden ist. Manche zünden
Kerzen für ihre Liebsten an und suchen Kraft und Antwort in Gebeten, auch wenn
sie mit der Kirche als Institution nichts mehr zu tun haben wollen. Auch
Radio-Gottesdienste und Andachten können eine wichtige Rolle spielen. Andere
brauchen ihren Glauben als Anker und Halt gegenüber dem Schlimmen, was ihnen
begegnet ist. Im Kontakt mit achtsamen PastorInnen und Seelsorgern, die sich
für Betroffene einsetzen, kann zudem neues Vertrauen wachsen und ein eigener
Glaube neu entdeckt und geformt werden. Darüber hinaus machen Menschen, die für
einen neuen Glauben und Gerechtigkeit in der Kirche kämpfen, Mut. Sie
motivieren Betroffene, sich selbst wieder auf die Suche nach ihrem Glauben zu
machen.
Egal, was für Sie in Hinblick auf Ihre eigene Spiritualität in Frage kommt: Wichtig ist, dass Sie – sofern Sie wollen – sich auf die Suche begeben und dabei gut auf sich achten. Nehmen Sie sich in diesem Zusammenhang genügend Zeit. Diese brauchen Sie, um (über sich selbst) nachzudenken, zu meditieren, zu singen oder Tagebuch zu schreiben. Sie brauchen Raum, um sich der Natur oder der Kunst wieder anzunähern oder eine Bewegungsmeditation auszutesten. Und sie brauchen Mut und wohlwollende Wegbegleiter, wenn Sie sich wieder einem Glauben zuwenden wollen. Wichtig ist, dass Sie dabei Ihre eigenen Werte achten und leben können. Und denken Sie daran: In der Spiritualität darf die Seele auftanken. Sie kennt keinen Zwang. Suchen Sie so oft wie möglich Ihre Kraftorte auf, egal wo sich diese befinden. Das kann ein Ort in der Natur sein, eine besondere Kirche, ein Konzerthaus oder ein Museum, ein Meditationszentrum oder ein anderes Gotteshaus. Vieles ist möglich. Und gönnen Sie sich Rituale. Wenn es Ihnen guttut, können Sie zudem an einer spirituellen Gemeinschaft (z.B. Kirchengemeinde oder Meditationsgruppe) teilnehmen und zu dieser Ihren Teil beitragen. Bitte denken Sie dabei immer daran, gut auf sich aufzupassen. Lassen Sie sich nicht zu sehr vereinnahmen. Und achten Sie darauf, Ihre Bedürfnisse sowie Ihre Grenzen ernst zu nehmen und nach außen zu vertreten.
[1] Viele Inhalte stammen aus dem Buch von Spangenberg, Ellen (2008): Dem Leben wieder trauen. Traumaheilung nach sexueller Gewalt, S. 175-178