Montag, 20. Mai 2024

Sterben



Sui***-Gedanken sind ein sehr heikles Thema. Daher habe ich lange überlegt, ob ich das Thema in diesem Blog erwähnen soll oder nicht. Aber es darf kein Tabu sein. Denn gerade bei schwerster und schwerer ME/CFS fühlen sich viele Betroffene dem Tod näher als dem Leben. Der Freitod und die Entscheidung für ein begleitendes Sterben in Würde sind dann eine ernstzunehmende Entscheidung, die akzeptiert werden muss. Sie bietet Erlösung für einem unaushaltbaren Zustand. Auch ich habe in meiner Patientenverfügung entsprechende Wünsche niedergelegt.

Gleichzeitig ist jeder Freitod einer zu viel. Und es ist erschreckend, wie viele Betroffene mit Suizidgedanken zu kämpfen haben. Da ich jedoch selbst schon davon betroffen war, kann ich dies gut nachvollziehen. Es gibt Phasen und Momente, in denen Betroffene keinen Ausweg mehr sehen. Schwere Depressionen können bewirken, dass alles sinnlos erscheint. Manche Symptome und Schmerzen scheinen unaushaltbar. Durch zu wenig Schlaf gerät man in einen Ausnahmezustand. Angst, Verzweiflung oder Schuldgefühle nehmen überhand. Unumkehrbare Schädigungen machen das frühere Leben unmöglich. In diesen und vielen anderen Situationen können Gedanken auftauchen, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Sui**-gedanken gehören damit zu den typischen Folgen einer schweren Erkrankung und können chronischer Natur sein. Oft treten sie jedoch nur phasenweise oder in Krisen auf.

handeln sie in akutsituationen

Sollten Sie selbst davon betroffen sein, bitte ich Sie eindringlich, sich gut zu überlegen, inwieweit Sie diese Gedanken umsetzen wollen. Auch wenn Ihre Situation in diesem Moment unaushaltbar und unauflösbar erscheint, halten Sie sich bitte erst einmal zurück. Nehmen Sie Medikamente zur Beruhigung, versuchen Sie sich, durch Übungen zu beruhigen. Sprechen Sie mit Ihrem Arzt über Linderung der Schmerzen und Schlafprobleme.

Suchen Sie in akuten Gefahrensituationen Ihre Notfall-Telefonliste heraus.  Und dann telefonieren Sie umgehend die dort stehenden Telefonnummern nacheinander ab und bitten um Hilfe. Inwieweit Sie sich im Zweifelsfall in die nächstgelegene Psychiatrie einweisen lassen wollen, sollte jedoch ganz allein von Ihrem Wunsch abhängen – und von der hiesigen Psychiatrie. Wenn diese mit ME/CFS nicht umgehen kann, wäre es eher eine Verschlechterung. Wichtig wäre auf jeden Fall, dass Sie sich im Notfall freiwillig einweisen lassen. Sie haben dann wesentlich mehr Mitbestimmungsrecht und können die Klinik auf eigene Verantwortung wieder verlassen. 

Die Telefonseelsorge wäre eine weitere große Hilfe. Rufen Sie diese in einem solchen Notfall an. Entscheidend ist, dass Sie sich zu keiner Kurzschlusshandlung hinreißen lassen. Sagen Sie sich selbst, dass es nur Suizidgedanken sind und dass sie vorbeigehen werden. Nehmen Sie alle Kraft, die Sie noch haben und sagen Sie sich, dass Sie mehr sind als die aktuellen Gedanken und Gefühle. Lenken Sie sich ab und denken Sie an die schönen Momente in Ihrem Leben. Nehmen Sie Ihr Glückstagebuch und lesen Sie laut daraus vor. Schauen Sie – wenn möglich - einen schönen Film oder ein gutes Buch. Alles ist richtig, sofern es Sie von den zerstörerischen Gedanken abhält.

der umgang mit chronischen sui**-gedanken

Über chronische oder phasenweise auftretende Sui***-gedanken sollten Sie mit einer Person Ihres Vertrauens offen reden. Freunde und Familie können mit dem Thema sehr schnell überfordert sein, während Hausärzten und Seelsorgern die Fragestellung nicht fremd ist. Manchmal reicht es aus, die – für Sie so ausweglose – Situation zu thematisieren, um danach gemeinsam Lösungen zu finden. Ein ehrliches Gespräch kann erst einmal entlasten. Eine Psychotherapie kann zudem bei der Krankheitsbewältigung helfen. Bei Depressionen sollten Sie einen Psychiater aufsuchen. Mit ihm können Sie über die Basis- und die Notfallmedikation sprechen. Er kann Sie auch medikamentös besser einstellen, sodass die Sui***-gedanken eventuell schon an Macht verlieren oder sogar verschwinden. Wenn Sie wollen, können Sie auch einen Selbstschutzvertrag mit der Person Ihres Vertrauens schließen. In diesem Vertrag vereinbaren Sie, dass Sie sich bei Sui***-gedanken umgehend bei ihr oder in einer Psychiatrie melden oder dass Sie mit einer Entscheidung auf jeden Fall bis zur nächsten Sprechstunde warten und das Thema dort ansprechen etc. Legen Sie dann ein Exemplar des Vertrags in Ihren Notfallkoffer. In schweren Krisen können Sie ihn auch an eine Wand hängen, auf die Sie regelmäßig schauen. So dient der Vertrag als Erinnerung.

Gleichzeitig bitte ich eindringlich, niemals mit Selbstmord zu drohen, um Ihre Mitmenschen zu erpressen. Bitte sprechen Sie den Satz „Ich bringe mich um, wenn Du … nicht machst.“ nie aus. Es ist zum einen alles andere als fair gegenüber Ihrem Umfeld und kann Ihren Mitmenschen sehr schaden. Zum anderen können Sie damit langfristig wichtige Beziehungen zerstören, weil sich Ihre Freunde irgendwann von Ihnen abwenden werden. Menschen, die zu oft mit Sui*** drohen, werden in der Regel irgendwann nicht mehr ernst genommen. Sie würden in einem echten Notfall keine Unterstützung mehr bekommen.

Sollten Sie jedoch persönlich nach reiflichem Überlegen zu der Entscheidung kommen, dass Sie diesem Leid wirklich ein Ende bereiten wollen, dann wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie die notwendige Unterstützung in Ihrem Umfeld bekommen, um das Vorhaben friedlich und würdig umsetzen zu können. Sprechen Sie das Thema dann in einem guten Augenblick in Ihrer Umgebung an und beschäftigen Sie sich mit Patientenverfügungen und Co. Mehr Informationen zu diesem Thema finden Sie u.a. bei der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) e. V. bzw. auf deren Website www.dghs.de.

Aufgrund eigener Erfahrungen aus meiner Kindheit und Jugend weiß ich selbst, wie es ist, durch Sui***-Drohungen verängstigt und manipuliert zu werden. Ich möchte aufgrund von starken Triggern hier darauf nicht weiter eingehen. Aber eines ist sicher: Mit einem solchen Verhalten schadet man sich selbst und seinen Mitmenschen. Niemand profitiert davon.

Weiterhin kenne ich selbst Sui***-Gedanken aus schweren Krisen. Lange Zeit machte ich diese Gedanken mit mir selbst aus. Ich traute mich nicht darüber zu sprechen, da ich überzeugt war, dass mich die Menschen abweisen würden. Zudem hatte ich Angst, sofort in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen zu werden. Irgendwann ging es mir aber so schlecht, dass ich die Flucht nach vorn ergriff und davon erzählte. Damals war ich sehr froh über die mitfühlenden und achtsamen Reaktionen. Vor allem mein Hausarzt half mir sehr, indem er dem Thema weder auswich noch in Panik geriet. Im Gegenteil: Er wollte sehr konkret von mir wissen, wie ich einen Sui*** plane. Heute ist mir klar, dass er anhand meiner Schilderungen einschätzen konnte, wie weit ich in meinem Sui***-Gedanken schon vorgedrungen war und wie schlimm die Situation wirklich war. Für ihn war das alles kein Tabu. So konnten wir ernsthaft darüber reden, was zu tun wäre, um mich in Sicherheit zu bringen. Wir haben seitdem die Vereinbarung, dass ich jederzeit vorbeikommen kann, wenn etwas sein sollte. Und ich weiß heute, dass ich bei ihm kein Redeverbot, sondern Unterstützung vorfinde, die sehr entlastend wirken kann.

Mein Mann wiederum half mir sehr, indem er mir in einer schweren Krise den Film „Ist das Leben nicht schön?“ besorgte und mit mir anschaute. In diesem alten Film, der gern zu Weihnachten gezeigt wird, spielt James Stewart einen Mann, der schon immer seine Wünsche und Träume für seine Familie und Mitmenschen hintenangestellt hat. Dieser Mann heißt George. An einem Weihnachtsabend weiß George keinen Ausweg mehr, weil seine Bank, die vielen Menschen in seiner Stadt geholfen hat, ruiniert ist. Er will sich umbringen. Da schickt ihm der Himmel einen Engel zur Rettung. Anfangs ist dieser mit George stark überfordert, bis er auf die Idee kommt, George aufzuzeigen, wie das Leben ohne ihn und sein Wirken ausgesehen hätte. Der Film half mir sehr. Ich weinte noch stundenlang danach. Aber ich hatte wieder Mut gefasst. Mein Mann und unsere Hunde hielten mich immer wieder im Leben fest. Es war gut, für die Hunde verantwortlich zu sein. Und mir war und ist klar, dass ich den Menschen, den ich am meisten liebe, nie allein lassen möchte.

Andere Dinge, die mir halfen und auch wieder helfen würden, sind z.B. meine Glückstagebücher, das Lied von Rosenstolz „Wenn Du jetzt aufgibst“ und Distanzierungsübungen wie z.B. die Tresor-Übung. Selbstverständlich nahm ich auch die professionelle Hilfe meiner anderen Behandler in Form von Telefonaten, E-Mails und kurzfristigen Terminen in Anspruch. Darüber hinaus hilft es mir persönlich in Krisensituationen, zu duschen oder mich sofort auf mein Bett zu legen, in eine Decke einzuwickeln und zu versuchen, mich „wegzuschlafen“. Inzwischen habe ich oft genug die Erfahrung gemacht, dass ich in einem wacheren und erholten Zustand einen besseren Überblick über gewisse Situationen habe. Ich kann dann die vorherige, angstmachende und scheinbar ausweglose Situation wieder nüchterner betrachten. Aber ich habe gleichzeitig vorgeplant. Für den Fall, dass ich jemals wieder auf Bell 10 bis 20 rutschte, habe ich in meiner Patientenverfügung notiert, welche Maßnahmen ich mir wünsche – und ab wann für mich den Wunsch nach Sterbehilfe an erster Stelle steht. Mein Mann und mein Hausarzt wissen diesbezüglich Bescheid und respektieren diese Entscheidung.



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