Sonntag, 2. Juni 2024

Welche ambulanten Psychotherapie-Verfahren sind über gesetzliche Kassen möglich?



Bei ME/CFS und MCAS ergibt es Sinn, sich in Hinblick auf die Krankheitsbewältigung mit einer Psychotherapie auseinanderzusetzen und zu überlegen, ob eine solche unterstützen könnte. 

Sollten Traumata oder Angststörungen eine große Rolle spielen, ist eine Therapie auf jeden Fall von Vorteil - wobei selbstverständlich die eigene Belastbarkeit eine große Rolle spielen sollte.

Bei einer Suche nach einem ambulanten Psychotherapie-Platz ist in erster Linie entscheidend, ob Sie gesetzlich oder privat versichert sind. Sie sind in einer privaten Krankenkasse freier in Ihrer Auswahl, während Sie in der gesetzlichen Krankenkasse mehr Regularien berücksichtigen müssen. Diese akzeptieren z.B. nur TherapeutInnen mit Kassensitz, die in den sogenannten Richtlinientherapien arbeiten. Diese unterscheiden sich u.a. in Vorgehensweise und Zielsetzung. Entscheidend ist zudem ist die Zusatzausbildung der jeweiligen TherapeutIn. Darüber hinaus sollten Sie sich bei den jeweiligen TherapeutInnen erkundigen, ob sie auch Sitzungen über Zoom machen, was seit Covid erlaubt ist.

a) Verhaltenstherapie
b) Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
c) Psychoanalyse
d) Systemische Therapie (seit 01.07.2020)
e) Gruppentherapie-Verfahren (seit 01.10.2021)

Verhaltenstherapie (VT)

Die Grundidee der Verhaltenstherapie basiert auf der Lerntheorie, bei der davon ausgegangen wird, dass psychische Störungen im Laufe eines Lebens erlernt wurden – und auch wieder verlernt werden können. Dabei steht die Hilfe zur Selbsthilfe klar im Vordergrund, um eine möglichst schnelle Heilung oder Linderung der Beschwerden zu erzielen. Eine VerhaltenstherapeutIn arbeitet daher mit ihrer KlientIn daran, gestörte und krankmachende Denk- und Verhaltensmuster durch gesündere Alternativen zu ersetzen. Dabei gibt sie der KlientIn Techniken und Methoden an die Hand, die von der dieser im Alltag geübt und trainiert werden.

Bei schweren körperlichen Erkrankungen geht es u.a. darum, Methoden zur Krankheitsbewältigung zu erlernen - was bei ME/CFS Pacing, Umgang mit körperlichen Symptomen und schwierigen Gefühlen sowie Unruhezuständen etc. bedeutet. Auch eine herausragende Leistungsorientierung, die früher hilfreich war und nun jedoch eher schädlich ist, dürfte ein Thema für eine Therapie sein. Mit den hilfreichen Methoden kann die KlientIN so schrittweise ihre Symptome selbst kontrollieren und auf Dauer überwinden.[i] 

Verhaltenstherapie findet hauptsächlich im Sitzen einmal wöchentlich für 50 Minuten statt. Für bestimmte Übungen und Themen können auch Doppelstunden oder Auswärtstermine eingeplant werden. In sogenannten Angstexpositionstrainings werden z.B. bestimmte Situationen im öffentlichen Raum gezielt aufgesucht. Verhaltenstherapie-Stunden können damit zeitweise auch in der U-Bahn, beim Einkaufen oder während einer Autofahrt etc. stattfinden. Insgesamt werden in der Verhaltenstherapie 24 Sitzungen (Kurzzeittherapie) oder 45 Sitzungen (Langzeittherapie) genehmigt. Falls notwendig, kann die Therapie auf bis zu 80 Therapieeinheiten verlängert werden.

Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP)

Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie basiert auf der Annahme, dass die Ursachen für die heutigen Probleme im Unterbewussten liegen bzw. durch verdrängte und ungelöste Konflikte oder Traumata in der Kindheit oder Jugend entstanden sind.[ii] Eine tiefenpsychologische PsychotherapeutIn unterstützt ihre KlientIn, diese Konflikte zu erkennen. In der Therapie wird daher zunächst nach den Ursachen für die heutigen psychischen Beschwerden gesucht. Sobald die Ursachen bzw. die Konflikte aus der Vergangenheit gefunden und geklärt werden konnten, wird in der Therapie über Möglichkeiten gesprochen, um deren Einfluss auf die Gegenwart zu verringern. Hier arbeitet die TherapeutIn mit tiefenpsychologisch fundierten Techniken. Die Behandlung findet einmal pro Woche im Sitzen statt. In der Regel werden zwischen 60 und 100 Therapiesitzungen genehmigt.

Psychoanalyse (PA) und die psychoanalytische Therapie

Die Psychoanalyse wurde von Sigmund Freud begründet. Freud arbeitete mit der Theorie, dass psychische Krankheitssymptome Ausdruck von verdrängten, schmerzhaften Erinnerungen sind. Er ging daher davon aus, dass eine Klientin durch Ursachenfindung und -beschäftigung genesen kann. Die analytische Therapie beschäftigt sich damit detailliert mit der Biografie und Vergangenheit einer KlientIn. Ziel der Therapie ist, verdrängte Erinnerungen aufzurufen und alte Konflikte aufzudecken. In diesem Rahmen wird die KlientIn zum „freien Assoziieren" motiviert, worauf sich "Deutungen" der TherapeutIn anschließen. Dadurch gewinnt die Beziehung zwischen TherapeutIn und KlientIn an Wichtigkeit. Auch wird mit Übertragungen gearbeitet. Klassisch findet die Psychoanalyse nach wie vor im Liegen statt. Die TherapeutIn sitzt in der Regel hinter ihrer KlientIn. Sie nimmt sich damit zurück und gibt der KlientIn ihren ureigenen Raum.[iii]
  In der ursprünglichen Form gilt die Psychoanalyse inzwischen als ungeeignet für Menschen mit Traumafolgestörungen. Jedoch existieren heutzutage in der analytischen Psychotherapie modifizierte Behandlungskonzepte für spezielle Krankheitsbilder, die über die Freud`sche Annahmen weit hinausgehen. Dies gilt auch für die Traumatherapie. Daher lohnt es sich, gerade bei komplexen Traumafolgestörungen auch bei einer analytischen TherapeutIn nachzuhaken, wie sie arbeitet und ob sie die Kenntnisse der modernen Traumatherapie berücksichtigt. In der Regel finden bei der psychoanalytischen Therapie drei Sitzungen pro Woche statt. Die Krankenkasse bezahlt bis zu 300 Therapiestunden. Daher dauert die Therapie meist mehrere Jahre. Die KlientIn hat damit genügend Zeit. Da die Therapie längerfristig angelegt ist, sind jedoch kurzfristige Erfolge selten.

 
Systemische Therapie

Die systemische Therapie gehört erst seit dem 1. Juli 2020 zu den Richtlinienverfahren. Das Verfahren ist für die Einzel-, Paar-, Familien- und Gruppentherapie geeignet und hat sich aus der therapeutischen Arbeit mit Familien entwickelt.

In der systemischen Therapie wird davon ausgegangen, dass der Schlüssel zum Verständnis und zur Veränderung von Problemen weniger in der Störung der KlientIn liegt, sondern als Folge einer Störung im sozialen Umfeld derselben zu sehen ist.[iv] Damit arbeitet die systemische Therapie vor allem mit den Beziehungen der KlientIn, die für die Existenz des zu behandelnden Problems (mit-) verantwortlich sind. Auch Kontakte, die an der Störung beteiligt sind, werden in der Therapie berücksichtigt. Der Großteil davon ist z.B. in der Familie, Schule oder am Arbeitsplatz zu finden. Diese Beziehungen spielen eine entscheidende Rolle bei dem Ziel, das Problem zu lösen und die Störung damit zu beheben. Die Anwesenheit der relevanten Personen ist in der Therapie nicht vonnöten, kann jedoch bei Kindern und Jugendlichen von Nutzen sein.

Eine Wirksamkeit der systemischen Therapie wurde bisher für Angststörungen und Zwangsstörungen, unipolare depressive Störungen, Schizophrenie, Sucht- und Essstörungen nachgewiesen.[v] In der Regel werden zu Beginn 36 Stunden von der Krankenkasse genehmigt, wobei auch hier Verlängerungen möglich sind.[vi]

Bitte beachten Sie, dass die systemische Therapie nichts mit der stark umstrittenen Familienstellung nach Bert Hellinger zu tun hat, die vor allem in esoterischen Kreisen sehr beliebt ist. Diese ist mit hohen Risiken und Gefahren verbunden. Daher hat sich die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) bereits 2003 klar davon distanziert. [vii]

Gruppentherapie-Verfahren

Seit dem 01.10.2021 übernimmt die gesetzliche Krankenkasse auch die Kosten für eine gruppenpsychotherapeutische Grundversor­gung. Dank dieser können KlientInnen in den ersten vier (à 100 Minuten) oder acht (à 50 Minuten) Sitzungen überprüfen, ob eine Gruppentherapie für sie infrage kommt. In diesen Sitzungen klärt die leitende TherapeutIn u.a. über die Rahmenbedingungen einer Gruppentherapie auf. Erleichternd ist, dass – im Gegensatz zu den Einzelpsychotherapie-Verfahren – für die gruppentherapeutische Grundversorgung kein Antragsverfahren gegenüber den Krankenkassen notwendig ist.[viii] Bei einer anschließenden Gruppentherapie muss gewährleistet sein, dass diese von einer PsychotherapeutIn in einem der oben genannten Richtlinienverfahren angeleitet wird. Die gesetzliche Krankenkasse macht zudem zur Bedingung, dass die leitende Psychotherapeutin sowohl eine Kassenzulassung für Psychotherapie als auch eine Zusatzausbildung in Gruppentherapie hat.[ix]

Zu beachten

Bei ME/ CFS und der Zielsetzung Krankheitsbewältigung sollten Sie sich auf Psychotherapeuten aus der Verhaltenstherapie konzentrieren, die eventuell über eine psycho-onkologische Weiterbildung verfügen und sich mit ME/CFS auskennen. Auf  jeden Fall sollten die TherapeutInnen ME/CFS und MCAS als körperliche Erkrankungen anerkennen und ernst nehmen.

Falls Sie sich für eine Traumatherapie interessieren, bieten sich alle Richtlinien-Verfahren an. PSann aber sollten Sie auf jeden Fall klären, ob die betreffende TherapeutIn Erfahrung mit komplexen Traumafolgestörungen sowie dissoziativen Zuständen hat. Haken Sie diesbezüglich unbedingt nach. Fragen Sie auch nach den Methoden, mit denen die TherapeutIn arbeitet, und scheuen Sie sich nicht, sich nach deren Aus- und Fortbildungsstand zu erkundigen. Denn für den Erfolg der Traumatherapie ist letztlich entscheidend, nach welchem Traumatherapie-Konzept und wie die TherapeutIn arbeitet – unabhängig davon, in welcher Richtlinientherapie sie ausgebildet ist.

Alle weiteren ambulanten Therapieformen wie z.B. Kunst-, Musik-, Tanz- oder Körpertherapie werden stationär oft begleitend angeboten. Ambulant werden sie derzeit jedoch leider nicht durch die gesetzlichen Krankenkassen erstattet, sondern müssen privat bezahlt werden.



[iii] https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/therapie/psychotherapie/klassische-psychoanalyse/, zuletzt aufgerufen am 13.09.2021

[iv] https://www.therapie.de/psyche/info/index/therapie/systemische-therapie, zuletzt aufgerufen am 13.09.2021; Dobmaier, Julia (2021): Systemische Therapie, auf https://www.netdoktor.de/therapien/psychotherapie/systemische-therapie/, zuletzt aufgerufen am 13.09.2021

[v] Ebenda

[vi] Kleinschmidt, Carola: „Diese Therapien gibt es“, in: Brigitte 20/2021, Seite 105. Hamburg: Gruner & Jahr GmbH

[viii] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/127739/Ab-Oktober-drei-neue-Leistungen-in-der-gesetzlichen-Krankenversicherung, zuletzt aufgerufen am 29.09.2021

[ix] https://www.therapie.de/psyche/info/fragen/wichtigste-fragen/was-bezahlt-die-krankenkasse/, zuletzt aufgerufen am 29.09.2021 

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