Donnerstag, 11. Juli 2024

Die Welt der "Wundermittel": Eine kritische Betrachtung


ME/CFS- und Long Covid-Betroffene probieren viele Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel sowie Methoden aus. Das ist völlig normal und verständlich bei einer Erkrankung, die von der Schulmedizin Jahrzehnte sträflich vernachlässigt wurde. Wir versuchen, uns selbst zu heilen bzw. die Symptome zu lindern, greifen nach jedem Strohhalm und sind dankbar für neue Impulse. Parallel werden von Behandlern Versuche mit unterschiedlichen Mitteln gestartet, um Linderung zu verschaffen. Das alles ist wichtig und richtig. Damit machen wir uns jedoch selbst zu Versuchskaninchen und sind anfällig für teils hochtrabende Versprechungen und Mode-Erscheinungen.

Dabei sind die sozialen Medien Fluch und Segen zugleich. Über Youtube, Whatsapp, Telegram und Co. werden Videos und Aussagen geteilt, in Gruppen werden bestimmte Mittel hochgelobt. Aber gleichzeitig werden in manchen Aussagen Einzelerfahrungen schnell verallgemeinert, Hypothesen und Meinungen werden zu Fakten, Versuche mit einzelnen Patienten werden zu Studien, Gesundheits-Coaches werden zu studierten Ärzten und  auf sogenannten Gesundheitskongressen wird immer mehr Produktwerbung betrieben. Darüber hinaus gibt genügend "Gurus" bzw. (selbst ernannte) Experten, die ihr ureigenes Produkt bzw. ihre Überzeugungen vorantreiben wollen.

Solange wir
- differenziert denken und gut recherchieren,
- die Vor- und Nachteile eines Produktes abwägen,
- gewisse Kontraindikationen ernst nehmen und
- notwendige Voruntersuchungen vor Einnahme mancher Mittel vornehmen,
ist das alles in Ordnung.

Sobald ein einfaches Nahrungsergänzungsmittel jedoch als DAS Wundermittel durch die Gruppen und soziale Medien geistert, sollte man vorsichtig sein.

Ich möchte einige Beispiele nennen, um zu sensibilisieren:

a) CleanSlate:

Den Hype um Clean Slate dürfte jeder mitbekommen habe, da das Channel System  dafür sorgte, dass genügend Betroffene für Clean Slate warben. Stutzig machte von Anfang an eine ungenaue Darstellung der Inhaltsstoffe, die völlig überzogenen Heilversprechen sowie der hohe Preis. Durch durchgeführte Analysen ist heute klar, dass in dem teuren Produkt in keinster Weise die Inhaltsstoffe enthalten sind, die aufgeführt werden - und dass damit die Wirkungsweise infrage gestellt werden muss.

Einige Landesgerichte haben infolgedessen die Werbung wegen Verbrauchertäuschung verboten
a) https://www.anwalt.de/rechtstipps/verbrauchertaeuschung-landgericht-verbietet-werbung-fuer-nem-produktserie-root-wellness-clean-slate-u-a-213184.html
b) https://www.anwalt.de/rechtstipps/taeuschung-ueber-inhaltsstoffe-und-wirkung-120-werbeaussagen-fuer-produktserie-root-wellness-clean-slate-verboten-214726.html

Trotzdem wird für das Produkt nach wie vor im Netz auch von Ärzten geworben und im Rahmen von Ausleitungsprotokollen erwähnt.

b) Chlordioxid:
Als Wundermittel gegen Corona und als Allheilmittel beworben, wird es heute noch oft in den sozialen Medien empfohlen - obwohl Todes- und Vergiftungsfälle bekannt wurden. Erschreckend ist, dass dieses Mittel nach wie vor auch bei kleinen Kindern und Tieren eingesetzt wird. Die Anhängerschaft ist jedoch groß.

Mehr zu dem Thema erfahren Sie unter folgendem Link: 
https://medwatch.de/thema/chlordioxid/

Dies sind sicherlich zwei gravierende Beispiele.

Des Weiteren gibt es jedoch recht viele Fehlinformationen und Versäumnisse, die ich allein in der letzten Woche wahrgenommen habe:

a) LDN

Ich bin sehr dankbar für dieses Medikament. Seine Bedeutung für ME/CFS- und chronische Schmerzpatienten ist unbestritten. Gleichzeitig sind Behauptungen von Probanden, die dem Medikament eine entgiftende und schlaffördernde Wirkung zuschreiben, schlichtweg falsch.

b) Low Dose Lithium

Es gibt inzwischen Versuche mit Low Dose Lithium bei Long Covid:
https://www.buffalo.edu/ubnow/stories/2023/01/lithium-long-covid.html
https://michael-nehls.de/infos/lithium/

Im Zusammenhang mit diesen Studien wird gern behauptet, dass in der Allgemeinbevölkerung ein Lithium-Mangel herrscht - und deswegen die Einnahme von Lithium in geringen Mengen so wichtig ist. Diese Behauptung ist jedoch bisher noch nicht belegt. Und daher sollte jeder, der sich mit der Einnahme beschäftigt, vorher seine eigenen Spiegel besser messen lassen. Dies ist u.a. über IMD Berlin möglich. Ich selbst z.B. habe völlig normale Lithiumspiegel.

c) Methylenblau

Auch Methylenblau, ein altes Malaria-Mittel, erfährt durch Covid und seine Folgen eine Renaissance in der alternativen Medizin. Vergessen wird jedoch selbst von manchen Behandlern, dass das Medikament NICHT mit Antidepressiva zusammen eingenommen werden darf, da die Gefahr eines lebensbedrohlichen Serotonin-Syndroms besteht. Andere Behandler wissen das zwar, gehen jedoch mit den Patienten nicht die Medikamentenliste durch. Darüber hinaus besteht  bei einem G6PD-Mangel eine klare Kontraindikation. Ein Gencheck muss daher vorher erfolgen. Trotzdem wird inzwischen von manchen Behandlern behauptet, dass der Genmangel kein Problem sei.

d) Melatonin

Das Schlafhormon ist inzwischen freiverkäuflich in den Apotheken und wird auch von der Allgemeinbevölkerung gern genutzt. Es hilft vielen Menschen und wird deswegen auch bei den hartnäckigen Schlafproblemen von ME/CFS-Patienten empfohlen. Erschreckend ist jedoch, wenn in Gruppen Dosierungen von über 20 mg und weit darüber hinaus empfohlen werden, weil das "... in den USA so gehandhabt wird". Interessanterweise hat sich in den USA die Zahl der Vergiftungen mit Melatonin zwischen 2012 und 2021 versechsfacht (Quelle: https://medwatch.de/weitere-artikel/schlafmittel-melatonin-eine-ueberdosis-hoffnung/). Gleichzeitig ist es kein Wundermittel. Es hilft es nicht allen Menschen - und wird deswegen von manchen Schlafmedizinern auch garnicht mehr empfohlen. Ich z.B. litt bei jedem Versuch unter heftigen Nebenwirkungen und konnte trotzdem nicht schlafen. Aussagen wie "Du musst dann nur noch höher dosieren" sind in so einem Fall einfach fehl am Platz.

All diese Beispiele sollen dafür sensibilisieren, gut zu recherchieren, die individuelle Situation ernst zu nehmen, im Zweifelsfall nochmals mit Behandlern Rücksprache zu halten und gleichzeitig seinem Körper zu vertrauen. Um die Versuche mit Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln kommen wir nicht herum. Aber wir sollten dabei achtsam bleiben und nicht alles glauben, was im Netz steht.




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