Dienstag, 2. Juli 2024

Wie bei mir die ME/CFS anfing



Jeder hat seine persönliche und individuelle ME/CFS-Geschichte.

Meine ist sehr lang, da ich nun schon seit 21 Jahren erkrankt bin. Darüber hinaus ist sie geprägt von Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen sowie von einer Ärzte-Odysse, die ich so nicht mehr erleben möchte. Damit habe ich jedoch vieles mit anderen gemeinsam, die noch vor Covid erkrankt sind.

Bevor mich die ME/CFS aus dem Leben riss, arbeitete ich als Marketing- und Kommunikationsleiterin in einem Internet-Startup. Die Arbeit machte mir sehr viel Spaß. Aber der regelmäßige Ärger mit meinem narzisstischen und cholerischen Chef zermürbte mich zusehends. Oft geriet ich in meiner Sandwichposition zwischen Vorstand und Mitarbeitern in unmögliche Stresssituationen. Mein Pflichtgefühl, das mir in Kindheit und Jugend anerzogen wurde, war jedoch sehr groß. Und so machte ich weiterhin Überstunden und sorgte dafür, dass alles glatt lief. Aber ich wusste, dass ich kürzertreten und mehr an mich denken musste. Gesundheitliche Themen wie starke wiederkehrende Migräne, Eisenmangel, Schilddrüsenunterfunktion, Gastritis und Co. kannte ich bereits seit meiner Jugend. Nach einem Auffahrunfall litt ich zunehmend unter starken Nackenverspannungen und -blockaden, die ich regelmäßig vom Chiropraktiker behandeln ließ. Mir war klar, dass ich zu viel arbeitete und dadurch kompensierte. U.a. lagen die Gründe für meine Neigung, zu viel zu arbeiten, in einer schweren und traumatischen Kindheit und Jugend. Diese hatte ich lange Zeit verdrängt. Meine frühere Magersucht aus der Jugend war zudem noch latent vorhanden. Nach außen war sie kein Thema mehr, in meinem Innersten hatte ich die Angst vor einer zu starken Gewichtszunahme jedoch nie wirklich besiegt. Es wurde Zeit, mich mit meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen.


retraumatisierung

Daher entschied ich mich für eine Verhaltenstherapie, durch die jedoch sehr viele Traumata aus Kindheit und Jugend an die Oberfläche kamen. Bis zu einem gewissen Grad kam ich gut damit klar. Aber als der Verhaltenstherapeut dann ohne vorherige grundlegende Stabilisierungsmaßnahmen mit der Trauma-Konfrontation anfing, geriet ich in psychische Ausnahmezustände, die sich v.a. in Albträumen, Schlafschwierigkeiten,  starker Schreckhaftigkeit und Angst vor lautem Gebrüll deutlich machten. Heute weiß ich, dass mein damaliger Verhaltenstherapeut nicht professionell genug war, um die Trauma-Konfrontation adäquat vorzubereiten und die Komplexität im Auge zu behalten. Er brachte mich damit in Teufels Küche. Ich tat alles, um die Erinnerungen an die Gewalt von früher abzuwehren. Aber ich schlief und aß immer weniger. Parallel arbeitete ich noch mehr.


grippeschutzimpfung

So befand ich mich bereits in einen gewissen Ausnahmezustand, als ich von meinem Hausarzt Ende 2002 eine Grippeschutzimpfung bekam. Einen Tag nach der Impfung hatte ich Fieber, zwei Tage später musste ich mich krankschreiben lassen. Insgesamt blieb ich drei Wochen zuhause. Diesen Infekt wurde ich gefühlt nie wieder los. Für mich der Anfang der ME/CFS.

Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich meinem Hausarzt berichtete, kräftemäßig nicht mehr auf die Beine zu kommen. Meine Blutwerte waren jedoch bis auf niedrige Eisenspiegel alle in Ordnung. Damit war für mich die Sache klar, dass ich mich einfach wieder auftrainieren muss. Ich arbeitete weiter, ging regelmäßig zum Schwimmen und versuchte mein Leben mit meinem Freund so gut wie möglich zu gestalten. Aber immer öfters kamen Zusammenbrüche, die sich in hartnäckigen Migräne-Anfällen, Stirnhöhlenentzündungen sowie einem stark erniedrigten Blutdruck etc. zeigten. Ich wurde immer blasser und dünner. Teilweise fuhr ich mit dem Taxi zur Arbeit, weil ich es mit dem ÖPNV nicht mehr schaffte. Mitte 2003 war klar, dass ich eine Reha-Maßnahme benötige, wobei jedoch die Ursache für meine Beschwerden zu 100 Prozent in meinen Traumafolgestörungen gesehen wurden, die durch die Verhaltenstherapie und die dortige Retraumatisierung ans Tageslicht kamen. Da sich in der Firma zudem wegen Streitigkeiten im Vorstand die Stimmung stark verschlechterte, war ich selbst überzeugt, dass die Situation am Arbeitsplatz meine Gesundheit darüber hinaus stark beeinträchtigt.

Mein erster Reha-Antrag wurde jedoch abgelehnt, da ich trotz all meiner Beschwerden in den letzten drei Jahren nur drei Wochen krankgeschrieben war. Nach einem Widerspruch wurde ich zu einem Gutachter geschickt, der mir dann bestätigte, dass ich auf Kosten meiner Gesundheit arbeitete.


rehamassnahmen und arbeitsunfähigkeit

So schaffte ich es dann doch in die Reha-Klinik, die ich mir vorab ausgesucht hatte. Ich entschied mich damals für die Klinik Heiligenfeld, u.a. aufgrund der interessanten Therapiemaßnahmen und des intensiven Programms. Denn ich hatte große Angst vor Leerlauf. 

Bevor ich die Reha-Maßnahme antreten konnte, spitzte sich die Situation auf der Arbeit jedoch nochmals zu. Die Trauma-Erinnerungen ließen sich damit kaum mehr deckeln. Ein Zusammenbruch war vorprogrammiert. Einige Wochen vor der Reha musste ich mich krankschreiben lassen, da einfach nichts mehr ging. Meine Ärzte forcierten damals die Aufnahme in die Klinik. Dort angekommen durfte ich erleben, wie die dortigen Behandler meinen Panzer durchbrachen, was zur Folge hatte, dass die schwere komplexe Posttraumatische Belastungsstörung in ihrer Gänze zu Tage kam. Letztlich weinte ich tagelang und rutschte von einem Ausnahmezustand in den anderen. Mein stark geschwächter körperlicher Zustand wurde allein auf diese Traumata und meine Probleme mit dem Essen reduziert und damit als sekundär betrachtet. Stabilisiert wurde ich jedoch nicht. Die Therapien vor Ort, die v.a. in Gruppen stattfanden, waren zu aufwühlend. Einzig und allein die Rhythmusgymnastik Taketina gab mir ein wenig Halt. Sechs Wochen später wurde ich mit der Empfehlung für eine sechsmonatige Arbeitsunfähigkeit und Wiedereingliederung entlassen. Darüber hinaus wurde mir angeboten, eine Intervalltherapie zu machen. Ich selbst war anfangs mit der Empfehlung überfordert und zu Boden zerstört. Denn eigentlich hatte ich gedacht, nach sechs Wochen wieder zu „funktionieren“.

Der Empfang zuhause war sehr gemischt. Während mein Lebensgefährte sich rührend um mich kümmerte, wurde ich in der Firma von meinem Chef sehr eisig begrüßt. Der Streit eskalierte. Durch die Reha war mir zudem klar, dass das Verhalten meines Chefs den Begriff Bossing verdiente. Daher konnte ich das Wiedereingliederungs-Programm nur sechs Wochen durchziehen, bevor ich mich wieder aus Selbstschutz krankschreiben ließ. Aber ich hatte an Klarheit gewonnen und machte dem neuen Arbeitgeber klar, dass ich erst wieder kommen werde, wenn mein Chef nicht mehr in der Firma tätig ist.

Dank meines sehr verständnisvollen Hausarztes und meines Lebensgefährten, der meine Pläne unterstützte, konnte ich mich dann erst einmal nur auf meine Erholung konzentrieren, was bitter nötig war.

Aus den sechs Monaten Arbeitsunfähigkeit und Wiedereingliederung sollten letztlich zwölf Monate werden. In diesen suchte ich mir eine neue Psychotherapeutin, die gleichzeitig als Trauma-Fachberaterin bei Michaela Huber gelernt hatte. Denn mir war nach der Reha klar, dass ich bei meinem bisherigen Therapeuten keine Möglichkeit haben werde, wieder stabiler zu werden. Darüber hinaus ging ich nochmals für neun Wochen in dieselbe Klinik. Beim zweiten Aufenthalt wurde jedoch deutlich, wie stark aufdeckend in dieser Klinik gearbeitet wurde – und wie wieder einmal die Stabilisierung und v. a. auch meine körperliche Erschöpfung unterschätzt wurde. Nicht nur einmal geriet ich in Diskussionen mit einem sehr jungen Psychologen, der nicht verstand, warum ich Therapien ausfallen lassen möchte. Das Verständnis für meine Situation war nur bedingt vorhanden. Aktivierung war täglich angesagt. Vorgesehen war, mich regelmäßig zu provozieren, damit ich „an meine Wut“ komme. U.a. musste ich in der Gruppentherapie mit einem Stock auf einen Stoffballen einschlagen, was schwere Sui*-gedanken zur Folge hatte. Daher ist es kein Wunder, dass damals bereits die ersten Krampfanfälle auftraten, die im Entlassbericht jedoch keines Wortes gewürdigt wurden.


heilung?

Zuhause wurde ich zum Glück von meiner Therapeutin aufgefangen. Mir war klar, dass ich all die Erinnerungen, die in den letzten Jahren und auch in der letzten Reha hochgekommen waren, erst einmal bearbeiten musste, bevor ich mich an Neues wagen konnte.

Gleichzeitig war ich körperlich gestärkt. Ich hatte etwas zugenommen und war bereit, wieder in die Arbeit einzusteigen. Das Unternehmen war in der Zwischenzeit an einen großen Internetanbieter verkauft worden. Mein früherer Chef nicht mehr dort tätig. So konnte ich dort in einer neuen Position wieder neu anknüpfen. Da das Unternehmen jedoch örtlich verlegt wurde und ich meinen Wohnort nicht langfristig verlassen wollte, wurde mir schnell klar, dass ich mich anderweitig umschauen muss. Relativ schnell fand ich eine neue, gleichwertige Stelle und konnte optimistisch in die Zukunft sehen.

Parallel entschieden mein Freund und ich zu heiraten. Es war für mich ein sehr wichtiger Schritt, mich auch mit den Erfahrungen der Schwäche anzuvertrauen. Gleichzeitig war ich in der Tat überzeugt, dass ich wieder genesen war. So feierten wir im April 2005 unsere Hochzeit mit vielen Freunden und Verwandten. Ich fühlte mich wie Phönix, der aus der Asche wiederauferstanden ist, und war optimistisch. Wenn man mich damals gefragt hätte, ob ich geheilt bin, hätte ich eindeutig „Ja“ gesagt. Das war jedoch ein fataler Irrtum, was sich bald herausstellen sollte.

Fortsetzung folgt!

Teil 2: Vor den Trümmern meiner Existenz
Teil 3: Die Suche nach Klarheit – eine Odyssee (2019 bis 2023)

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