Jeder hat seine persönliche und individuelle ME/CFS-Geschichte.
Meine ist sehr lang, da ich nun schon seit 21 Jahren erkrankt bin. Darüber hinaus ist sie geprägt von Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen sowie von einer Ärzte-Odysse, die ich so nicht mehr erleben möchte. Damit habe ich jedoch vieles mit anderen gemeinsam, die noch vor Covid erkrankt sind.
Bevor mich die ME/CFS aus dem
Leben riss, arbeitete ich als Marketing- und Kommunikationsleiterin in einem
Internet-Startup. Die Arbeit machte mir sehr viel Spaß. Aber der regelmäßige
Ärger mit meinem narzisstischen und cholerischen Chef zermürbte mich zusehends.
Oft geriet ich in meiner Sandwichposition zwischen Vorstand und Mitarbeitern in
unmögliche Stresssituationen. Mein Pflichtgefühl, das mir in Kindheit und
Jugend anerzogen wurde, war jedoch sehr groß. Und so machte ich weiterhin
Überstunden und sorgte dafür, dass alles glatt lief. Aber ich wusste, dass ich
kürzertreten und mehr an mich denken musste. Gesundheitliche Themen wie starke
wiederkehrende Migräne, Eisenmangel, Schilddrüsenunterfunktion, Gastritis und
Co. kannte ich bereits seit meiner Jugend. Nach einem Auffahrunfall litt ich
zunehmend unter starken Nackenverspannungen und -blockaden, die ich regelmäßig
vom Chiropraktiker behandeln ließ. Mir war klar, dass ich zu viel arbeitete und
dadurch kompensierte. U.a. lagen die Gründe für meine Neigung, zu viel zu
arbeiten, in einer schweren und traumatischen Kindheit und Jugend. Diese hatte
ich lange Zeit verdrängt. Meine frühere Magersucht aus der Jugend war zudem
noch latent vorhanden. Nach außen war sie kein Thema mehr, in meinem Innersten hatte
ich die Angst vor einer zu starken Gewichtszunahme jedoch nie wirklich besiegt.
Es wurde Zeit, mich mit meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen.
retraumatisierung
Daher entschied ich mich für eine
Verhaltenstherapie, durch die jedoch sehr viele Traumata aus Kindheit und
Jugend an die Oberfläche kamen. Bis zu einem gewissen Grad kam ich gut damit
klar. Aber als der Verhaltenstherapeut dann ohne vorherige grundlegende
Stabilisierungsmaßnahmen mit der Trauma-Konfrontation anfing, geriet ich in
psychische Ausnahmezustände, die sich v.a. in Albträumen, Schlafschwierigkeiten,
starker Schreckhaftigkeit und Angst vor
lautem Gebrüll deutlich machten. Heute weiß ich, dass mein damaliger
Verhaltenstherapeut nicht professionell genug war, um die Trauma-Konfrontation adäquat
vorzubereiten und die Komplexität im Auge zu behalten. Er brachte mich damit in
Teufels Küche. Ich tat alles, um die Erinnerungen an die Gewalt von früher
abzuwehren. Aber ich schlief und aß immer weniger. Parallel arbeitete ich noch
mehr.
grippeschutzimpfung
So befand ich mich bereits in
einen gewissen Ausnahmezustand, als ich von meinem Hausarzt Ende 2002 eine
Grippeschutzimpfung bekam. Einen Tag nach der Impfung hatte ich Fieber, zwei
Tage später musste ich mich krankschreiben lassen. Insgesamt blieb ich drei
Wochen zuhause. Diesen Infekt wurde ich gefühlt nie wieder los. Für mich der Anfang der ME/CFS.
Ich erinnere
mich noch gut daran, dass ich meinem Hausarzt berichtete, kräftemäßig nicht
mehr auf die Beine zu kommen. Meine Blutwerte waren jedoch bis auf niedrige
Eisenspiegel alle in Ordnung. Damit war für mich die Sache klar, dass ich mich
einfach wieder auftrainieren muss. Ich arbeitete weiter, ging regelmäßig zum
Schwimmen und versuchte mein Leben mit meinem Freund so gut wie möglich zu
gestalten. Aber immer öfters kamen Zusammenbrüche, die sich in hartnäckigen
Migräne-Anfällen, Stirnhöhlenentzündungen sowie einem stark erniedrigten
Blutdruck etc. zeigten. Ich wurde immer blasser und dünner. Teilweise fuhr ich
mit dem Taxi zur Arbeit, weil ich es mit dem ÖPNV nicht mehr schaffte. Mitte 2003
war klar, dass ich eine Reha-Maßnahme benötige, wobei jedoch die Ursache für
meine Beschwerden zu 100 Prozent in meinen Traumafolgestörungen gesehen wurden,
die durch die Verhaltenstherapie und die dortige Retraumatisierung ans
Tageslicht kamen. Da sich in der Firma zudem wegen Streitigkeiten im Vorstand
die Stimmung stark verschlechterte, war ich selbst überzeugt, dass die
Situation am Arbeitsplatz meine Gesundheit darüber hinaus stark beeinträchtigt.
Mein erster Reha-Antrag wurde jedoch abgelehnt, da ich trotz all meiner
Beschwerden in den letzten drei Jahren nur drei Wochen krankgeschrieben war.
Nach einem Widerspruch wurde ich zu einem Gutachter geschickt, der mir dann
bestätigte, dass ich auf Kosten meiner Gesundheit arbeitete.
rehamassnahmen und
arbeitsunfähigkeit
So schaffte ich es dann doch in
die Reha-Klinik, die ich mir vorab ausgesucht hatte. Ich entschied mich damals
für die Klinik Heiligenfeld, u.a. aufgrund der interessanten Therapiemaßnahmen
und des intensiven Programms. Denn ich hatte große Angst vor Leerlauf.
Bevor ich die Reha-Maßnahme antreten konnte, spitzte sich die Situation auf der
Arbeit jedoch nochmals zu. Die Trauma-Erinnerungen ließen sich damit kaum mehr
deckeln. Ein Zusammenbruch war vorprogrammiert. Einige Wochen vor der Reha musste
ich mich krankschreiben lassen, da einfach nichts mehr ging. Meine Ärzte
forcierten damals die Aufnahme in die Klinik. Dort angekommen durfte ich
erleben, wie die dortigen Behandler meinen Panzer durchbrachen, was zur Folge
hatte, dass die schwere komplexe Posttraumatische Belastungsstörung in ihrer
Gänze zu Tage kam. Letztlich weinte ich tagelang und rutschte von einem
Ausnahmezustand in den anderen. Mein stark geschwächter körperlicher Zustand
wurde allein auf diese Traumata und meine Probleme mit dem Essen reduziert und
damit als sekundär betrachtet. Stabilisiert wurde ich jedoch nicht. Die Therapien
vor Ort, die v.a. in Gruppen stattfanden, waren zu aufwühlend. Einzig und
allein die Rhythmusgymnastik Taketina gab mir ein wenig Halt. Sechs Wochen
später wurde ich mit der Empfehlung für eine sechsmonatige Arbeitsunfähigkeit
und Wiedereingliederung entlassen. Darüber hinaus wurde mir angeboten, eine
Intervalltherapie zu machen. Ich selbst war anfangs mit der Empfehlung
überfordert und zu Boden zerstört. Denn eigentlich hatte ich gedacht, nach
sechs Wochen wieder zu „funktionieren“.
Der Empfang zuhause war sehr gemischt. Während mein Lebensgefährte sich rührend
um mich kümmerte, wurde ich in der Firma von meinem Chef sehr eisig begrüßt.
Der Streit eskalierte. Durch die Reha war mir zudem klar, dass das Verhalten
meines Chefs den Begriff Bossing verdiente. Daher konnte ich das
Wiedereingliederungs-Programm nur sechs Wochen durchziehen, bevor ich mich
wieder aus Selbstschutz krankschreiben ließ. Aber ich hatte an Klarheit
gewonnen und machte dem neuen Arbeitgeber klar, dass ich erst wieder kommen
werde, wenn mein Chef nicht mehr in der Firma tätig ist.
Dank meines sehr verständnisvollen Hausarztes und meines Lebensgefährten, der meine Pläne unterstützte, konnte ich mich dann erst einmal nur auf meine Erholung konzentrieren, was bitter nötig war.
Aus den sechs Monaten Arbeitsunfähigkeit und Wiedereingliederung sollten
letztlich zwölf Monate werden. In diesen suchte ich mir eine neue
Psychotherapeutin, die gleichzeitig als Trauma-Fachberaterin bei Michaela Huber
gelernt hatte. Denn mir war nach der Reha klar, dass ich bei meinem bisherigen
Therapeuten keine Möglichkeit haben werde, wieder stabiler zu werden. Darüber
hinaus ging ich nochmals für neun Wochen in dieselbe Klinik. Beim zweiten
Aufenthalt wurde jedoch deutlich, wie stark aufdeckend in dieser Klinik
gearbeitet wurde – und wie wieder einmal die Stabilisierung und v. a. auch
meine körperliche Erschöpfung unterschätzt wurde. Nicht nur einmal geriet ich
in Diskussionen mit einem sehr jungen Psychologen, der nicht verstand, warum
ich Therapien ausfallen lassen möchte. Das Verständnis für meine Situation war
nur bedingt vorhanden. Aktivierung war täglich angesagt. Vorgesehen war, mich
regelmäßig zu provozieren, damit ich „an meine Wut“ komme. U.a. musste ich in
der Gruppentherapie mit einem Stock auf einen Stoffballen einschlagen, was
schwere Sui*-gedanken zur Folge hatte. Daher ist es kein Wunder, dass damals
bereits die ersten Krampfanfälle auftraten, die im Entlassbericht jedoch keines
Wortes gewürdigt wurden.
heilung?
Zuhause wurde ich zum Glück von
meiner Therapeutin aufgefangen. Mir war klar, dass ich all die Erinnerungen,
die in den letzten Jahren und auch in der letzten Reha hochgekommen waren, erst
einmal bearbeiten musste, bevor ich mich an Neues wagen konnte.
Gleichzeitig war ich körperlich gestärkt. Ich hatte etwas zugenommen und war
bereit, wieder in die Arbeit einzusteigen. Das Unternehmen war in der
Zwischenzeit an einen großen Internetanbieter verkauft worden. Mein früherer
Chef nicht mehr dort tätig. So konnte ich dort in einer neuen Position wieder
neu anknüpfen. Da das Unternehmen jedoch örtlich verlegt wurde und ich meinen
Wohnort nicht langfristig verlassen wollte, wurde mir schnell klar, dass ich
mich anderweitig umschauen muss. Relativ schnell fand ich eine neue,
gleichwertige Stelle und konnte optimistisch in die Zukunft sehen.
Parallel entschieden mein Freund
und ich zu heiraten. Es war für mich ein sehr wichtiger Schritt, mich auch mit
den Erfahrungen der Schwäche anzuvertrauen. Gleichzeitig war ich in der Tat
überzeugt, dass ich wieder genesen war. So feierten wir im April 2005 unsere
Hochzeit mit vielen Freunden und Verwandten. Ich fühlte mich wie Phönix, der
aus der Asche wiederauferstanden ist, und war optimistisch. Wenn man mich
damals gefragt hätte, ob ich geheilt bin, hätte ich eindeutig „Ja“ gesagt. Das
war jedoch ein fataler Irrtum, was sich bald herausstellen sollte.
Fortsetzung folgt!
Teil 2: Vor den Trümmern meiner Existenz
Teil 3: Die Suche nach Klarheit – eine Odyssee (2019 bis 2023)